John Marc Comer

Gott hat einen Namen

Markierter Bibeltext
Der Name Gottes wird in der Bibel überwiegend mit «der Herr» übersetzt. Das ist für den bekannten Autor John Marc Comer viel zu blass. «Wenn ich Gott 'der Herr' nenne, ist das so, als ob ich zu meiner Frau Tammy 'die Ehefrau' sagen würde.»

Wer ist Gott? Das ist wohl die Grundfrage aller Theologie («Theo-Logie» = Lehre von Gott). Natürlich finden sich in der Bibel viele Antworten auf diese Frage. Die grundlegendste Spur finden wir im 2. Buch Mose. Mose will wissen, mit wem er es zu tun hat, wenn er mit Gott geht. Aber Kopfwissen ist ihm nicht genug. Er möchte Gott erleben. (Gutes Beispiel dafür, dass man die richtige Frage stellen muss.) Weil Gott gnädig ist, erklärt er Mose, dass er Gottes Gesicht nicht sehen kann, weil er sonst sterben würde, «denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben» (2. Mose Kapitel 33, Vers 20). Aber Gott hat etwas Besseres für Mose. Er sagt ihm: «Ich will meine Güte an dir vorüberziehen lassen und will meinen Namen ›der HERR‹ [Jahwe] vor dir ausrufen» (2. Mose Kapitel 33, Vers 19).

Gott hat also – einen Namen.

Schlüsselmoment auf dem Sinai

Am nächsten Morgen steht Mose früh auf und steigt auf den Gipfel des Berg Sinai. Und dann lesen wir einen der atemberaubendsten Texte der gesamten Bibel: «Dann kam der HERR [Jahwe] in der Wolkensäule herab, trat zu ihm und rief seinen Namen ›der HERR‹ [Jahwe] aus. Er ging an Mose vorüber und sprach: ‚Ich bin der HERR [Jahwe], der barmherzige und gnädige Gott. Meine Geduld, meine Liebe und Treue sind gross. Diese Gnade erweise ich Tausenden, indem ich Schuld, Unrecht und Sünde vergebe. Und trotzdem lasse ich die Sünde nicht ungestraft, sondern kümmere mich bei den Kindern um die Sünden ihrer Eltern, bis in die dritte und vierte Generation‘» (2. Mose Kapitel 34, Verse 5-7).

Das ist einer dieser Schlüsselmomente, die alles verändern. Es ist eine der wenigen Passagen in der ganzen Bibel, in denen Gott sich selbst beschreibt. Im Grunde sagt er hier: «So bin ich.» Wir können es als ein Selbstoffenbarungs-Statement von Gott sehen, als seine Pressemitteilung an die Welt. Hier ist der Ausgangspunkt für Gottes Theologie.

Ich persönlich finde auffallend, dass dieser Abschnitt so komplett anders ist, als wir es erwarten würden. Wir im Westen denken in den Kategorien der Philosophie über Gott nach. Schlag ein beliebiges Buch über Gott auf, und es wird oft mit den sogenannten «Omnis» beginnen:

Gott ist omnipotent – er ist allmächtig.

Gott ist omniszient – er ist allwissend.

Gott ist omnipräsent – er ist überall gleichzeitig.

Und all das stimmt. Ich glaube das. Aber ich habe auch ein Problem damit: Denn in seiner Selbstbeschreibung sagt Gott nicht zuerst, wie mächtig er ist oder dass er alles weiss oder dass es ihn schon vor Zeit und Raum gab und es im ganzen Universum niemanden wie ihn gibt – auch wenn das alles richtig ist. Aber offensichtlich ist es für Gott nicht das Wichtigste. Gott beginnt seine Selbstbeschreibung mit seinem Namen.

Es geht um den Charakter

Dann spricht er über das, was wir Charakter nennen: Er ist barmherzig und gnädig. Seine Geduld, Treue und Liebe sind gross, und so weiter. Und es ist sinnvoll, damit zu beginnen. Wenn wir hingegen mit den «Omnis» beginnen, ist das so, als wenn jemand wissen will, wie meine Frau so ist, und ich antworte: 33 Jahre, 1,55 m, 54 kg, schwarze Haare, braune Augen, lateinamerikanische Vorfahren... All das stimmt. Aber stell dir vor, du hättest mich nach meiner Frau gefragt und ich würde nur all diese Fakten herunterleiern. Du würdest mich vermutlich irgendwann unterbrechen und fragen: «Ja, aber wie ist sie? Erzähl mir doch mal richtig von ihr. Was ist sie für ein Typ? Ist sie gelassen oder eher dominant? Gesellig oder schüchtern? Wofür kann sie sich begeistern? Warum hast du dich in sie verliebt? Was macht sie aus?»

Die Fakten allein sind für die meisten Leute relativ uninteressant. Aber oft reden wir genau so faktenbasiert von Gott: Wir rattern einen Haufen Dinge herunter, die zwar alle wahr sind, nur sind es nicht die Dinge, die Gott wirklich ausmachen. Deshalb bringt dieser Abschnitt in 2. Mose Kapitel 34 so viel frischen Wind in unser verstaubtes Gottesbild. Hier zeigt sich nämlich, dass Gott besser ist, als wir es uns je hätten vorstellen können.

Gott hat also einen Namen. Und – nur um das klarzustellen – er lautet nicht «Gott». Sondern JAHWE.

Das erscheint dir vielleicht unwichtig, wie Haarspalterei. Aber glaub mir, das ist es nicht. Die Tatsache, dass Gott einen Namen hat, ist weitaus wichtiger, als den meisten von uns klar ist. Wenn wir genau hinsehen, erkennen wir, dass Gott seinen Namen sogar zweimal nacheinander nennt: «Jahwe, Jahwe, Gott, barmherzig und gnädig...» (2. Mose Kapitel 34, Vers 6). Jahwe wiederholt hier seinen Namen. Warum?

Wenn wir heutzutage in einem Buch, einem Blogpost oder einer E-Mail etwas Bestimmtes betonen wollen, dann kursivieren oder unterstreichen oder fetten wir es – oder wir SETZEN ALLES IN GROSSBUCHSTABEN. Aber wenn ein Schreiber in der Antike etwas wirklich deutlich machen wollte, wiederholte er es. Also, wenn du unbedingt etwas sagen willst, das jeder mitkriegt, sagst du es einfach noch mal.

Wenn Jahwe seinen Namen nicht einmal, sondern zweimal nennt, ist das seine Art auszudrücken, dass wir kurz Pause machen und über seinen Namen in der Tiefe nachdenken sollen. Unsere Beziehung zu Gott wird sich so radikal verändern. Äh, ich meine natürlich zu Jahwe.

Mose ahnt die richtige Frage

Mose hat den Namen Gottes damals am Sinai in der Wolkensäule nicht zu ersten Mal gehört. Jahre vorher, am brennenden Dornbusch, hat Mose erlebt: Gott zeigt sich und zieht ihn ins Gespräch (2. Mose Kapitel 3, Verse 1-18). Gott erklärt Mose, dass er die Ungerechtigkeit sieht, die Unterdrückung der Israeliten. Und er ist bereit, etwas dagegen zu tun. Deshalb möchte er, dass Mose das Volk aus der Knechtschaft führt. Darauf will Mose wissen, was er den Israeliten sagen soll, wenn sie ihn nach diesem Gott fragen. Es scheint nicht auszureichen, den Leuten einfach nur zu sagen: «Der Gott meines Vaters will euch befreien.»

Moses Frage (von der er annimmt, dass die Israeliten sie ihm stellen) ist faszinierend. Auf Hebräisch lautet sie: «Mah schemo?» Übersetzt: «Was ist sein Name?» (2. Mose Kapitel 3, Vers 13). Der hebräische Leser von damals würde genau an dieser Stelle die Ohren spitzen. Denn diese Frage ist anders als die sonst übliche Frage nach dem Namen einer Person. Wer 1500 v. Chr. in einem hebräischen Flüchtlingslager lebte, würde auf einen Fremden mit der Frage zugehen: «Mi schimcha?», was sich eher mit «Wer ist dein Name?» übersetzen lässt.

Doch das sagt Mose nicht. Er fragt stattdessen: «Mah schemo?» Mah schemo? bedeutet eher «Was bedeutet dein Name?». Oder: «Was ist die Bedeutung deines Namens?» Oder: «Was macht dich zu dir?» Mose fragt den Schöpfer-Gott: «Wer bist du? Wie bist du? Erzähl mir etwas über deinen Charakter.»

Wer Gott ist

Und dann spricht der Schöpfer seinen Namen aus. Zum ersten Mal überhaupt. Ich stelle mir an dieser Stelle ein Beben unter Moses Füssen vor. «Ich bin, der ich bin.» Auf Hebräisch heisst das ehjeh-ascher-ehjeh. Eine der Möglichkeiten, diese Wendung zu übersetzen, lautet: «Ich werde sein, der ich sein werde.» Will heissen: Wie auch immer Gott ist, ist dauerhaft. Er ist unerschütterlich, konstant, und zwar 24/7.

Wenn also Gott zum Beispiel barmherzig ist, dann ist er immer barmherzig. Wenn Gott gnädig ist, dann ist er immer gnädig. Wenn er langsam zum Zorn ist, dann ist er immer langsam zum Zorn.

Bei Gott gibt es also keine Fassade. Kein «wenn du ihn erst mal richtig kennenlernst, dann...». Er ist seinem Charakter treu. Er ist ein Gott, auf den wir uns verlassen können.

Gott nennt Mose also seinen Namen und trägt ihm dann auf, nach Ägypten zurückzukehren und den Hebräern Folgendes zu übermitteln: «Sag ihnen: ‚Der HERR [Jahwe], der Gott eurer Vorfahren – der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs – hat mich zu euch gesandt.‘ Das ist mein Name für alle Zeiten; alle kommenden Generationen sollen mich so nennen» (2. Mose Kapitel 3, Vers15).

Vielleicht denkst du jetzt: «Stopp, ich bin verwirrt. Warum wird Gott hier Jahwe genannt? Ich dachte, er heisst ‚Ich bin, der ich immer bin‘.» Das Hebräisch der Bibel hat in der geschriebenen Sprache keine Vokale. In Gottes Namen – Jahwe – stehen die Vokale also nicht im ursprünglichen Text. In der hebräischen Bibel steht nur «J-H-W-H». Vier Buchstaben, das ist alles. Die Bibelwissenschaft nennt sie das «Tetragramm». Klingt, als wäre es die Energiequelle für den Fluxkompensator von «Zurück in die Zukunft», oder?

Tetragramm ist ein griechisches Wort, das «Vierfachzeichen» bedeutet. JHWH stammt von der gleichen Wortwurzel wie «Ich bin, der ich immer bin.». Aber ehjeh steht in der ersten Person (ich) und Jahwe in der dritten (er). Wenn wir die beiden Wörter laut aussprechen, hören wir die Ähnlichkeit.

Also ... Ehjeh bedeutet «ich bin». Jahwe bedeutet «er ist». Wenn Gott seinen Namen sagt, heisst es deswegen ehjeh. Aber wenn wir Gottes Namen sagen, lautet er Jahwe. Ist das verständlich?

Das Verschwinden des Gottesnamens

Jahwe ist unglaublich schwer ins Deutsche zu übertragen, aus mehreren Gründen. Zunächst wissen wir eigentlich nicht, um welche Vokale es sich handelt, weil sie niemals niedergeschrieben wurden. Fast alle jüdischen Theologen denken, dass Jahwe korrekt ist, aber ehrlich gesagt ist das nur eine Vermutung.

Doch der Hauptgrund ist, dass die Hebräer mit der Zeit aufhörten, Gottes Namen laut auszusprechen. Eines der Zehn Gebote lautet: «Du sollst den Namen des HERRN [Jahwes], deines Gottes, nicht missbrauchen» (2. Mose Kapitel 20, Vers 7). Und die Hebräer hatten so viel Angst, dieses Gebot aus Versehen zu übertreten, dass sie Gottes Namen irgendwann einfach gar nicht mehr in den Mund nahmen. Stattdessen verwendeten sie andere Namen. Beliebt war kurz HaSchem, «der Name». Aber die üblichste Anrede lautete Adonai, ein hebräisches Wort mit der Bedeutung «Herr».

Im antiken Nahen Osten nannten Knechte ihren Herrn so, deshalb gebrauchten die Hebräer diesen Titel für Gott. Wegen des jüdischen Wechsels zu Adonai wird JHWH im Deutschen normalerweise mit «der Herr» wiedergegeben. Die grosse Mehrzahl der Übersetzungen drückt Gottes Namen auf diese Weise aus, und deshalb nennen viele Jesus-Nachfolger Gott auch «der Herr». Wir hören diesen Namen in Gebeten, Liedern, Predigten und Büchern – er ist allgegenwärtig.

Meiner Meinung nach ist das eine gefährliche Verschiebung, die dazu führen könnte, dass wir eine Schlüsselfacette unserer Beziehung zu Gott aus dem Blick verlieren. Warum? Weil «der Herr» kein Name, sondern ein Titel ist – wie der Arzt oder der Richter oder der Präsident. Wenn ich Gott «der Herr» nenne, ist das so, als ob ich zu meiner Frau Tammy «die Ehefrau» sagen würde. Das wäre echt seltsam. Warum? Weil ich in einer engen Beziehung zu ihr stehe, aber meine Sprache diese Intimität nicht widerspiegeln würde.

Erinnerst du dich an diesen Vers: «Das ist mein Name für alle Zeiten; alle kommenden Generationen sollen mich so nennen.» (2. Mose Kapitel 3, Vers 15)? Ich bin der Meinung, dass wir Gott wieder mit seinem Namen ansprechen sollten.

Diese schrittweise Verschiebung, Gott nicht mehr mit seinem Namen Jahwe anzusprechen, sondern mit dem Titel «der Herr», sagt etwas über den Zustand von uns Menschen aus. Auch wenn wir die ganze Zeit von unserer «persönlichen Beziehung zu Jesus» sprechen, hat doch etwas in uns Angst vor der Intimität mit Gott. Wir sehen das Feuer und den Rauch oben auf dem Berg und weichen aus Furcht zurück.

Jesus ging sogar noch einen Schritt weiter. Er lehrte uns, Gott «Vater» bzw. «Abba» (Papa) zu nennen – der intimste Name für eine Beziehung, den es gibt.

Offenbarung auf dem Gipfel

Jetzt aber zurück zu Moses Frage: «Mah schemo?» «Was bedeutet dein Name?»

Beantwortet Gott diese Frage? Ein bisschen, aber nicht wirklich. Mose bekommt den Namen – Jahwe – aber den Sinn oder die Bedeutung von Gottes Namen versteht er erst später in der Geschichte. Ein paar Kapitel weiter sagt Jahwe zu Mose: «Ich bin der HERR [Jahwe]. Ich bin Abraham, Isaak und Jakob als ‚der allmächtige Gott‘ [El-Schaddai] erschienen, aber unter meinem Namen ‚der HERR‘ [Jahwe] habe ich mich ihnen nicht zu erkennen gegeben» (2. Mose 6,2-3).

Mit anderen Worten: Gott hat sich Abraham und seinen Söhnen nur teilweise gezeigt. So ist seine Vorgehensweise in den Büchern der Bibel. Er offenbart sich nicht auf einmal, sondern Stück für Stück, und gibt seinem Volk so die Zeit, aufzunehmen und zu verarbeiten, wer Gott ist.

Erst als Mose auf dem Gipfel des Berg Sinai steht, bekommen wir die ganze, vollständige Antwort auf seine Frage nach dem Sinn und der Bedeutung von Gottes Namen. Dort, in der furchterregenden Wolke von Gottes Herrlichkeit, lesen wir, dass Gott seinen Namen ausruft: «Jahwe, Jahwe, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und reich an Gnade und Treue, der Gnade bewahrt an Tausenden [von Generationen], der Schuld, Vergehen und Sünde vergibt, aber keineswegs ungestraft lässt, [sondern] die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern und Kindeskindern, an der dritten und vierten [Generation]» (2. Mose Kapitel 34, Verse 5-7).

Dieser Augenblick der Offenbarung auf dem Berg Sinai, bei dem wir Gottes Namen kennenlernen – das ist der Moment in der hebräischen Bibel. Der Rest des sogenannten Alten Testaments zeigt einfach nur – in einer langen Reihe von Geschichten – diesen Gott in Aktion.

Der Artikel ist ein gekürzter und bearbeiteter Auszug aus Comers Buch «Gott hat einen Namen. Wie du über Gott denkst, prägt dein Leben», das im September bei R.Brockhaus erscheint. Ähnliche Impulse gibt es im Magazin Faszination Bibel. Infos zum günstigen Jahresabogutschein des Magazins findest du hier.

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Datum: 14.09.2025
Autor: John Marc Comer
Quelle: Magazin Faszination Bibel 03/2025, SCM Bundes-Verlag

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