«Freikirchen» im Blitzlichtgewitter
Am 18. Oktober 2025 betitelt der Tagesanzeiger die Bewegung «Letzte Reformation» als «Radikale Freikirche bei Winterthur». Am 24. Oktober 2025 bezeichnet 20Minuten die «Erste Liebe Kirche» als «Jugend-Freikirche». Nach Einschätzungen von Relinfo-Leiter Georg Otto Schmid sei «Letzte Reformation» jedoch «keine normale Freikirche», sondern «eine mit sektenhaften Zügen» – und «Erste Liebe Kirche» «positioniere sich innerhalb der Freikirchenszene eher radikal». Schmid unterscheidet damit diese Bewegungen von typischen Freikirchen. Diese Differenz ist institutionell dadurch fassbar, dass weder «Letzte Reformation» noch «Erste Liebe Kirche» zum Dachverband Freikirchen.ch gehören. Die damit verbundenen Unterschiede betreffen sowohl die strukturelle Einbettung als auch die inhaltlichen Schwerpunkte, wie eine Skizzierung deutlich macht.
«Letzte Reformation»
Die Bewegung «Letzte Reformation» («Last Reformation») wurde 2011 vom Dänen Torben Søndergaard gegründet. In der Schweiz gibt es eine kleine Gruppierung unter der Leitung des ehemaligen Freikirchenpastors Joël Salvisberg, die sich für die Verbreitung dieser Bewegung engagiert. Das Ziel ist gemäss Selbstdarstellung, dass aus «passiven und getäuschten Christen aktive Jünger Christi werden». Die Bewegung «macht den Aufruf, nicht weiterhin ungeprüft den von Menschen gemachten Strukturen und Lehren in vielen Kirchen/Gemeinden nachzufolgen, sondern dem, was Jesus Christus und die ersten Jünger selbst bezeugt und gelehrt haben». Die Selbstbeschreibung macht deutlich, dass sich die Bewegung in erster Linie an Menschen richtet, die bereits in christlichen Gemeinschaften unterwegs sind. Sie dürfte daher auch besonders für Personen anziehend sein, die von bestehenden Kirchen enttäuscht sind und sich nach mehr Wundern und stärkeren Glaubenserfahrungen sehnen. Es gehört zur Kerntätigkeit dieser Bewegung, auf der Strasse in der spontanen Begegnung mit Passanten Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen zu praktizieren. Man versteht sich dabei als direkte Nachahmer von Jesus Christus. In sogenannten «Kickstart-Seminare» sollen Christen solche Praktiken lernen. Kirchliche Traditionen werden dagegen als hinderlich für die Entfaltung des christlichen Glaubens betrachtet.
Strukturell erweist sich die Abgrenzung von den etablierten Kirchen und der überhöhte Anspruch, die «letzte» Reformation zu sein, als problematisch. Weil man um jeden Preis Strukturen vermeiden will, gibt es keine «Checks and Balances», keine Legitimierungsprozesse für Leitungspersonen, keine transparenten Entscheidungsprozesse, keine geregelten Partizipationsmöglichkeiten für «normale» Gläubige, keine Rechenschaftspflicht und keine finanzielle Transparenz. Man kann sich mit einer solchen Haltung auch gegen jede Kritik immunisieren. Gleichzeitig wird durch die Abgrenzung verhindert, dass die eigenen Gaben und Anliegen konstruktiv in der bestehenden kirchlichen Landschaft eingebracht werden können. Denn es ist durchaus zuzugestehen, dass neu entstehende Bewegungen oft auf ein Defizit in den bestehenden Kirchen hinweisen und sich ohne ein solches Defizit auch kaum entfalten könnten. Es wäre viel sinnvoller, wenn innerhalb der Kirchenlandschaft Defizite wahrgenommen und berechtigte Anliegen eingebracht werden können. Das würde aber eine grundsätzliche wohlwollende Anerkennung bestehender Kirchen sowie auch eine selbstkritische Grundhaltung voraussetzen. Beides ist bei «Letzte Reformation» kaum erkennbar.
Inhaltlich löst die Fokussierung auf Spontanheilung und Geistbefreiung viele Fragen aus, die auch bei anderen Heilungsdiensten zu stellen sind: Welche Verantwortung übernimmt man für Personen, die keine Heilung erfahren? Wie nachhaltig sind die in Videos dokumentierten Heilungen wirklich? Wie geht man mit Manipulation und Suggestion um? Wie seriös wurde die Krankengeschichte der betroffenen Menschen wahrgenommen? Wie ist die Verbindung von Heilungsgebet und ärztlicher Heilkunst? Die fehlende kirchliche Einbettung von Heilungsdiensten führt dabei zu Verzerrungen einer eigentlich gut gemeinten Praxis. Die kirchliche Einbettung von Heilungsgebet würde es dagegen ermöglichen, dass dort für Heilung gebetet wird, wo man auch bereit ist, Kranke zu besuchen und zu tragen, wo langfristige Begleitung möglich ist, und wo der Heilungsdienst in ein ganzheitliches kirchliches Leben eingebettet ist.
«Erste Liebe Kirche»
Die First Love Church ist Teil des weltweiten Netzwerks «United Denominations Originating from the Lighthouse Group of Churches», das seine Wurzeln in Accra (Ghana) hat. Sie wurde 1987 von Dag Heward-Mills gegründet. Zur Gruppe gehören über 40 Denominationen mit rund 3500 Gemeinden in über 70 Ländern. Die First Love Churches sind lokale Ausprägungen dieser Bewegung. Im Unterschied zu «Letzte Reformation» handelt es sich bei «Erste Liebe Kirche» um eine etablierte, global vernetzte, pfingstlich-charismatische Bewegung. Bei aller grundsätzlichen Kritik an pfingstlicher Theologie und Praxis ist festzuhalten, dass pfingstliche Kirchen knapp einen Drittel der weltweiten Christenheit ausmachen, an offiziellen ökumenischen Dialogen beteiligt sind und ihre eigene Praxis auch theologisch reflektieren. Vor diesem Hintergrund wäre die «Erste Liebe Kirche» als lokales Phänomen einer globalen Bewegung einzustufen, die sich in einem typischen pfingstlich-charismatischen Rahmen bewegt. «Erste Liebe Kirche» hat auch Ableger in der Schweiz, diese sind aber im Unterschied zur afrikanischen Szene hier noch nicht etabliert.
Die «Erste Liebe Kirche» in der Schweiz steht noch in einer Anfangs- und Aufbauphase und ist noch nicht voll ausgereift. Das mag mit ein Grund dafür sein, dass einige Bereiche kritische Resonanz auslösen: Das betrifft zunächst die dezidierte Ausrichtung auf Jugendliche. Im Facebook-Profil der Zürcher Gruppe heisst es: «First Love ist eine Gruppe von jungen Erwachsenen, die in Form von Gesang, Theater und Tanz andere junge Erwachsene für Jesus begeistern wollen». Damit verbunden ist ein für Schweizer Verhältnisse vielleicht etwas forsches Bestreben, Jugendliche zur Teilnahme zu bewegen. Es ist sicher nicht verwerflich, dass es kirchliche Formate für junge Menschen gibt. Es gibt aber durch die Fokussierung auf eine Altersgruppe zwangsläufig Einseitigkeiten. Von der ganzen Spannbreite der Lebensfragen von der Geburt bis zum Tod müssen viele Aspekte ausgeblendet bleiben. Auch die Lebensweisheit der älteren Generation kann nur ungenügend berücksichtigt werden. Bei einer starken Fokussierung auf junge Menschen durch junge Menschen könnte ein Übereifer entstehen, bei dem die Begeisterungs- und Manipulationsfähigkeit junger Menschen eher ausgenutzt statt kritisch reflektiert wird. Eine reife kirchliche Arbeit, wie sie sich in etablierten Frei- und Landeskirchen zeigt, zeichnet sich gerade dadurch aus, dass Menschen generationenübergreifend aus allen Altersstufen und in allen Lebenslagen Begleitung erfahren.
Auch der Umgang mit den Finanzen löst Fragen aus. In der medialen Berichterstattung ist von einem hohen Spendendruck die Rede. Eine Haltung, die vermittelt, dass höheres Spendenaufkommen mit mehr Segensempfang verbunden sei, ist kritisch zu hinterfragen. Gefordert wäre ein transparenter Umgang mit Finanzen, wozu sich beispielsweise die Mitgliedskirchen von Freikirchen.ch verpflichten. Eine solche Transparenz ist bei den Schweizer Ablegern von «Erste Liebe Kirche» noch nicht erkennbar. Hier besteht sicher noch Handlungsbedarf. Vermutlich wird an dieser Stelle auch die kontextuelle Verortung noch ungenügend bedacht. Afrikanische Kirchenkulturen lassen sich nicht unmittelbar in Schweizer Kontexte verpflanzen – und umgekehrt. Kontextualisierung und Sensibilität für die Schweizer Kultur sind Aspekte, die aber nicht nur bei der «Ersten Liebe Kirche» kritisch bedacht werden müssen, sondern bei allen neuen Kirchengestalten, die durch Migrationsbewegungen bzw. durch «Reverse Mission» geprägt werden, also aus Kulturen stammen, die ursprünglich «Missionsländer» der Westkirchen waren. Es ist eine Bereicherung für die Schweizer Kirchenlandschaft, wenn sie Impulse aus den Kirchen des Südens erhält. Das erfordert einen konstruktiven, offenen und lernbereiten Dialog. Es ist ein gutes Signal, dass der Zürcher Ableger von «Erste Liebe Kirche» Mitglied der Evangelischen Allianz Zürich ist. Damit sind gute Voraussetzungen geschaffen, um in einem übergeordneten Netzwerk eine erhöhte Selbstreflexion zu fördern und erkannte Mängel zu beheben.
Fazit
In der Freikirchenlandschaft gibt es immer wieder neu aufkommende Bewegungen. Oft reagieren diese auf bestimmte Mängel bei den bestehenden Freikirchen, allerdings meist in einer übertriebenen und einseitigen Form. Wo sich solche Bewegungen konstruktiv in bestehende Netzwerke einbringen, können fruchtbare Ergebnisse entstehen. Wo die Abgrenzung dominiert, kommt es zu ungesunden Verhärtungen und übertriebenen Betonungen von Einzelaspekten des christlichen Lebens. Gefragt sind funktionierende Netzwerke, in denen sich alle, die an einer christlichen Lebensgestaltung interessiert sind, konstruktiv und lernbereit einbringen. Für die mediale Berichterstattung wäre es daher sinnvoll, zwischen den etablierten Freikirchen und neu aufstrebenden Bewegungen zu unterscheiden. Es würde zu mehr Klarheit führen, wenn der Begriff «Freikirchen» nur für solche Gemeinschaften verwendet würde, die einen «kirchlichen» Charakter aufweisen. Dazu gehören neben den theologischen Merkmalen des Kirche-Seins folgende praktische Facetten:
- Ein Selbstverständnis, das sich nicht von anderen Kirchen abgrenzt, sondern sich als Teil der weltweiten Christenheit sieht. Das zeigt sich konkret darin, dass man sich konstruktiv und lernbereit in Netzwerken mit anderen Kirchen (wie beispielsweise Freikirchen.ch; Evangelische Allianz; Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen) einbringt.
- Eine auf Ganzheitlichkeit ausgerichtete kirchliche Praxis, die generationenübergreifend Menschen in allen Lebenslagen ernst nimmt und begleitet und trägt.
- Eine transparente Struktur und ein transparenter Umgang mit Finanzen.
- Eine kontextsensible missionarische Praxis, die auf Jesus Christus hinweist und zum Glauben einlädt, ohne die Notlagen von Menschen auszunutzen.
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Datum: 29.10.2025
Quelle:
Freikirchen.ch