Seit 800 Jahren in den Charts
Ein Lied, das zum Hit werden soll, braucht das gewisse Etwas. Natürlich gibt es feste Formeln dafür – nur haben die noch nie funktioniert. Demnach muss ein Song eine eingängige Melodie haben, einen emotionalen Text, darf nicht zu lang sein, braucht eine gewisse Struktur und muss natürlich persönlich sein. All dies hatte Giovanni Bernadone wohl nicht im Kopf, als er vor ziemlich genau 800 Jahren ein Loblied auf seinen Gott schrieb. Doch den «Sonnengesang» kennt und singt man bis heute, auch wenn sein Autor – der sich später Francesco und nach seinem Geburtsort Assisi nannte – wohl gar keinen Hit produzieren wollte, als er ihn schrieb.
Laudato si
Am bekanntesten ist die Lagerfeuerversion geworden, bei der Jugendliche aller Länder ihr «Laudato si» zur Gitarre singen, und Gott loben für all das, was er geschaffen hat. Im Original von Franz von Assisi heisst es zu Beginn:
Gelobt seist du, mein Herr,
mit allen deinen Geschöpfen,
besonders dem Herrn Bruder Sonne
der uns den Tag schenkt und durch den du uns leuchtest. Und schön ist er und strahlend mit grossem Glanz:
von dir, Höchster, ein Sinnbild.
In etlichen Strophen besingt der Gründer der nach ihm benannten Franziskaner nicht nur «Bruder Sonne» und «Schwester Mond» (die im Italienischen ein anderes Geschlecht haben als im Deutschen), sondern auch Wind, Wasser, Feuer, Erde und schliesslich den Tod. Wer das Lied hört, liest oder singt, wird von Franz mit hineingenommen in seine Art, Schöpfung auf Augenhöhe zu erleben, Verwandtschaft zu spüren, Zuneigung. Man kann den Mönch vor sich sehen, wie er in Umbrien in einen Sonnenuntergang hineinschaut. Sein Wanderleben mitten in der Natur führte ihn offensichtlich in eine tiefe Vertrautheit mit der Schöpfung. Oder man denkt an eigene Naturerlebnisse, bei denen es einem wie Schuppen von den Augen fällt, wie liebevoll und gross Gott sein muss, der dahinter steht: «Gelobt seist du, mein Herr.»
Kein Öko-Song
Eigentlich ist es klar, dass Franz vor 800 Jahren keine Hymne gegen den Klimawandel und für eine moderne Öko-Bewegung anstimmte. Zu seiner Zeit wurden viele Naturphänomene, die er besingt, eher als bedrohlich denn als romantisch wahrgenommen. Doch die Einordnung als Schöpfung, als Mitgeschöpf, schafft tatsächlich den Sprung in eine völlig andere Zeit. Thomas von Celano, ein früher Nachfolger von Franz von Assisi, betonte, dass dieser «die Welt als klaren Spiegel von Gottes Güte [sah]. In jedem Kunstwerk lobte er den Künstler. Was er in der geschaffenen Welt fand, führte er zurück auf den Schöpfer. […] Er erkannte im Schönen den Schönsten selbst.»
In seinem Lied schauen wir nicht von oben oder von aussen auf die Schöpfung. Wir sind ein Teil von ihr. Der Sonnengesang hat nichts mit den ebenfalls beliebten irischen Segenssprüchen zu tun – und doch alles. Genauso wie diese verknüpft er auf unnachahmliche Art das Leben, den Alltag und die normale Wahrnehmung mit dem Wissen, dass Gott darin zu finden ist. So ist das «Cantico» kein direkter Aufruf zur Verantwortung für unsere Schöpfung, aber diese wächst, wenn alles, was darin besungen wird, mit uns verwandt ist. Dann steht die Frage automatisch im Raum, die den arm gewordenen Millionärssohn damals beschäftigte: Wie kann mein Lebensstil einfacher werden? Mein Glaube tiefer, mein Umgang mit der Schöpfung respektvoller und mein Friede ansteckender?
Ein Vermächtnis
Franz von Assisi schrieb den Sonnengesang nicht an einem schönen Urlaubstag am Strand. Er lag schwer krank in einer Hütte bei San Damiano in der Nähe von Assisi. Seine Augen waren entzündet, er war praktisch blind und stark entkräftet. Er konnte all das, was er besang, selbst nicht mehr sehen. Wusste er, dass er bald sterben würde? Dass er vom Glauben zum Schauen kommen würde? Der Sonnengesang bildet eine Art Vermächtnis des bekannten Mönchs. In der letzten Strophe, die er erst kurz vor seinem Tod hinzufügte, spricht er davon, dass Bruder Tod ihn über die Schwelle zu Gott führen wird – und bittet darum, gut zu sterben. Ihn und uns alle erinnert dies daran, bereits jetzt gottgemäss zu leben. Dann verliert der Tod seinen Schrecken. Franz wusste: Gott, der den Kosmos in seiner Schönheit geschaffen hat, würde ihn im Tod in die unbeschreibliche Schönheit der Ewigkeit aufnehmen. Kein Wunder, dass er sich den eigenen Sonnengesang von seinen Mitbrüdern vorsingen liess, als er selbst starb.
Zum Thema:
Aufatmen und Kraft schöpfen: Gott in der Natur begegnen
Aus Liebe zur Schöpfung: Gott, die Natur und die Kirche
Weltraumphysiker: «Natur verstehen heisst Gott bewundern»