Wohnen und Bauen im 21. Jahrhundert

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Die Leiterin dieses Fachkreises streift die bisherigen Werte einer ethisch fundierten Architektur und skizziert dann das Wohnen und Bauen im 21. Jahrhundert.

Noch vor 100 Jahren wohnten viele Menschen in Mietblöcken mit engen Hinterhöfen. Typisch für die Wohnungen der Unterschicht waren mangelnde hygienische Einrichtungen und enge Wohnverhältnisse ohne genügend begrünte Aussenräume. Entsprechend schwierig gestalteten sich auch die Arbeitsbedingungen in vielen Fabriken. Die schwache Stellung der Arbeiterinnen und Arbeiter in allen Lebensbereichen wurde von Fabrikbesitzern sowie Häuser- und Grundstückbesitzern oft schamlos ausgenützt.

Unterwegs zu einem sozialen Wohnungsbau

Zwischen 1880 und 1920 regte sich in der betroffenen Bevölkerungsschicht zunehmend Protest gegen diese misslichen Lebensbedingungen. Es kam zu Demonstrationen, Gewerkschaften wurden gegründet, die Sozialdemokratische Partei erstarkte. All dies trug dazu bei, die unwürdigen Verhältnisse abzuschaffen.

Viele Planer und Architektinnen stellten sich auf die Seite derer, die benachteiligt waren. Sie plädierten für eine Wohnbauweise, die im Dienste der Bewohnerinnen und Bewohner stehen sollte. Es wurde nach Möglichkeiten gesucht, die Wohnverhältnisse zu verbessern.

Zwischen 1860 und 1920 kultivierte man im Zeichen des Historismus die Ornamentik, was den Grossteil der Kosten verschlang. Dabei wurden über den Fenstern Dreiecks- und Segmentgiebel angebracht, figürliche Darstellungen und Säulenmotive verzierten die Fassade; nicht aus statischen Gründen, sondern rein zur Zierde in Anlehnung an historische Vorbilder aus verschiedenen Baustilen wie Gotik, Renaissance und Barock.

In der Zeit des "Neuen Bauens" in den 20er- und 30er-Jahren wurde die Bauweise nun rationeller und ökonomischer. Neue Materialien wie Beton und Stahl machten es möglich, den Bauprozess zu mechanisieren und damit zu verbilligen. Ziel war eine eigene Wohnung für jede Familie. Nach dem Leitsatz "mehr Licht, Luft, Sonne" sollten die Wohnungen mit möglichst grossen Fenstern nach der Sonne orientiert werden. Mehr Grünflächen waren gefordert: Bäume, Pflanzen, Wiesen sollten die Umgebung der Wohnhäuser prägen. Küchen und Badezimmer wurden so konzipiert, dass sie für alle erschwinglich wurden und funktionell gut durchdacht waren. Neue haustechnische Einrichtungen und Haushaltgeräte wie Zentralheizung, Waschmaschinen, Kühlschränke und Staubsauger erleichterten das Wohnen.

Damit wurde eine Demokratisierung der Wohnverhältnisse erreicht, die Unterschiede zwischen den wenigen Privilegierten und der Masse von Unterprivilegierten verringerten sich. Viele Fachleute, Politikerinnen und Politiker stellten sich in den Dienst dieser sozial ausgerichteten Anliegen, die den Wohlstand möglichst für die Mehrheit der Bevölkerung vergrössern sollte. Ein Anliegen, das zweifellos nicht im Gegensatz zu einer christlichen Gesinnung stand.

Die Städte begannen, selber Land zu kaufen, um den sozialen Wohnungsbau zu fördern. Mit der Gründung von Genossenschaften sollte der Spekulation vorgebeugt werden. Wir profitieren noch heute von Menschen, die sich diesen Zielen verpflichtet fühlten. In der Stadt Zürich sind rund ein Viertel der Wohnungen in gemeinnütziger oder städtischer Hand. Der heutige Mietzins einer gemeinnützigen Drei-Zimmer-Wohnung beträgt durchschnittlich 910 Franken.

Bis hinein in die 60er-Jahre gab es einen allgemeinen Konsens, wofür man sich einsetzen wollte. Die Bewohnerschaft war klar definiert: Familien und einzelne Singles. Demgemäss wurden vor allem Drei-Zimmer-Familienwohnungen gebaut und Ein-Zimmer-Wohnungen für Alleinstehende. Noch heute sind 70 Prozent der Wohnungen in der Stadt Zürich Ein- bis Drei-Zimmer-Wohnungen, heute allerdings meist von 1 oder 2 Einzelpersonen bewohnt.

Der Wohlstand und seine Schattenseiten

Der technische Fortschritt brachte zunehmenden Wohlstand und Komfort, war also angesichts der bisherigen Misere eine wichtige Errungenschaft. Bald zeigte diese Entwicklung aber auch ihre Schattenseiten. So hat sich der Schweizer Energieverbrauch pro Person seit den 50er Jahren verfünffacht, und es gibt 23 mal mehr Autos, aber nur anderthalb mal so viele Bewohnerinnen und Bewohner. Der Bodenverbrauch durch Bauten verschiedenster Art (Gebäude und Strassen, Wege) nimmt in der Schweiz bis heute kontinuierlich zu. Pro Jahr verschwinden 2900 ha Landschaftsflächen, das entspricht der Grösse des Brienzersees. Zuviel Zivilisation aber führt allmählich zu einer Verödung der schweizerischen Landschaft.

Dies spielte sich vor dem Hintergrund eines Wertewandels ab. Zunehmender Materialismus und Individualismus traten an die Stelle einer sozialen, solidarischen Sichtweise. Das Verkehrsaufkommen mit seinen Negativfolgen wie Lärm und Luftverschmutzung, aber auch der Umweltverbrauch wurden lange unterschätzt. Man wollte vor allem die angenehme positive Entwicklung sehen und blendete die andere Seite weitgehend aus.

Heute sind viele Errungenschaften selbstverständlich geworden. Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir durchschnittlich mehr als doppelt so viel Wohnfläche pro Person benutzen als noch vor 40 Jahren. Ende 1999 waren das in der Stadt Zürich 52 qm pro Person. In grösseren Wohnungen sind mindestens 2 Sanitärräume (Bad und Dusche) selbstverständlich. Jedes Kind braucht ein eigenes Zimmer, die Wohnungen von Einzelpersonen und Paaren werden immer grösser. Rund die Hälfte der Bevölkerung in der Schweiz besitzt ein Auto. Dass wir unbeschränkt über Trinkwasser verfügen, ist keiner Diskussion wert. Dasselbe gilt für Elektrizität, Heizöl und Erdgas.

Eigentlich könnten wir für all das Erreichte dankbar sein, wenn da nicht dieser Drang nach immer mehr wäre: mehr Platz für den Computer, ein zusätzliches Büro, mehr Komfort, luxuriösere Badezimmer und Küchen, noch mehr Autos. Die andere, die soziale und ökologische Seite, ist ganz in Vergessenheit geraten.

Die Gefahr des Zuviel ist auch schon in 5. Mose 8,11 beschrieben: "Hüte dich alsdann, des Herrn, deines Gottes zu vergessen, .... dass nicht, wenn du dich satt essen kannst und schöne Häuser baust und darin wohnst, ... wenn Silber und Gold sich dir häuft und alles was du hast sich mehrt, dass nicht dein Herz sich alsdann überhebe und du des Herrn, deines Gottes vergessest". Auch im Neuen Testament wird immer wieder auf die Gefahr des Überflusses hingewiesen, etwa in Lukas 12,15: "... hütet euch vor aller Habsucht, denn wenn einer Überfluss hat, beruht sein Leben nicht auf seinem Besitz."

Wohnen mit Verantwortung macht Sinn

Eine von unserem Christsein bestimmte heutige Wohnweise müsste dem Trend nach "immer grösser und immer mehr" Einhalt gebieten und davon ausgehen, dass der beschränkte Boden nicht eine Marktware ist. Der Wunsch nach einem freistehenden Einfamilienhaus müsste hinterfragt werden, damit auch in Zukunft noch freie Flächen zwischen den Siedlungsgebieten bleiben. Wie heisst es doch in 3. Mose 25,23: "Das Land gehört Gott und darf nicht für immer verkauft werden." Land müsste von daher im Baurecht abgegeben werden und so in gemeinnützige Hand gelangen. Gemeinschaftliches Eigentum wäre eine weitere wichtige Voraussetzung, um zu einem haushälterischen, verantwortungsvollen Umgang mit Grund und Boden zu gelangen.

Einige Christen und andere engagierte Menschen leben heute gegen den Trend, indem sie die gemeinschaftsorientierte, ökologische Wohnbauweise fördern. In der Zürcher Gemeinschaftssiedlung Brahmshof wurden im Blick auf die heute unterschiedlich zusammengesetzte Bewohnerschaft Ein-Zimmer-Wohnungen bis zur Zehn-Zimmer-Wohnung für Wohngemeinschaften angeboten. Die einzelnen Zimmer wurden nicht mehr klar einer Funktion zugeordnet - etwa als Elternschlafzimmer oder Kinderzimmer -, sondern nutzungsneutral konzipiert, damit vielfältige Haushalt- und Lebensformen darin Platz finden konnten.

Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts

Am Anfang des 20. Jahrhunderts war es ein Gebot der Stunde, den sozialen Wohnungsbau zu fördern. Am Übergang zum nächsten Jahrhundert geht es darum, einen Wohnungsbau zu fördern, der sorgfältig mit den Ressourcen Boden und Energie umgeht; er muss gemeinschaftsfördernd sein, den verschiedensten Wohnformen Rechnung tragen und trotz allem auch finanziell günstige Angebote machen.

Dies ist nicht nur eine Sache von Architektinnen und Architekten. Letztlich müssen wir uns selber auf unseren Wohnstil hin befragen: Welchen Platzanspruch habe ich? Wie steht es mit meinen Beziehungen zur Nachbarschaft? Welchen Lebensstil bezüglich Auto und Energieverbrauch pflege ich? Es ist wichtig, je nach Lebensphase immer wieder die eigenen Ansprüche und den eigenen Lebensstil zu hinterfragen.

Verzicht ist dabei nicht gleichbedeutend mit mangelnder Lebensqualität, im Gegenteil.

· Der Verzicht aufs Auto bedeutet, dass ich mich im Zug, Tram oder Bus erholen kann. Ich habe Zeit zum Lesen, finde spontane Kontaktmöglichkeiten und schone meine Nerven. Dank meinem Verhalten fahre ich nicht mehr mit dem Auto durch bewohntes Gebiet. Ich durchbreche damit den Teufelskreis, dass entnervte Menschen wegen dem Lärm und Gestank aus dem Quartier wegziehen, um weiter draussen im Grünen ihr Glück versuchen, und dann wiederum mit ihrem Auto durch bewohntes Gebiet in die Stadt fahren.

· Mein Verzicht auf eine zu stark vom Individualismus geprägte Wohnweise ermöglicht Beziehungen zur Nachbarschaft, fördert damit das gegenseitige Helfen und Austauschen von Gedanken und Ideen. Das Teilen meiner Wohnung mit Gästen, Wohnpartnern, Untermieterinnen und natürlich Familienangehörigen wirkt der heute verbreiteten Einsamkeit entgegen.

· Durch das Überprüfen meiner Platzansprüche trage ich dazu bei, dass es auch in Zukunft genügend Grünflächen gibt, Möglichkeiten sich in der Natur zu erholen. Gleichzeitig beuge ich einer Zersiedlung der Landschaft vor.

· Mit einem kontrollierten Energieverbrauch in Verkehr, Haushalt und Garten schone ich die von Gott geschaffene Schöpfung und trage dazu bei, dass die Vielfalt in der Pflanzen- und Tierwelt erhalten bleibt.

Heute blicken wir auf wichtige Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zurück. Für vieles können wir dankbar sein. Viele Menschen wären froh, sie hätten unsern Wohnkomfort. In St. Petersburg (Russland) etwa haben immer noch nicht alle Familien eine eigene Wohnung; die Wohnfläche pro Person beträgt 9 bis 17 qm.

In Zukunft dürfen wir uns nicht länger nach immer mehr ausstrecken. Aspekte der Solidarität und der Ökologie müssen bewusst in unser Denken und Planen einbezogen werden. Die Frage beim Wohnen heisst nicht mehr "Was ist alles noch möglich?", sondern "Wozu dient diese oder jene Entwicklung?" Dabei kann ein bewusster Verzicht dazu beitragen, dass die eigene Lebensqualität, aber auch die der anderen gefördert wird.

Datum: 30.04.2003
Autor: Anne-Lise Diserens
Quelle: Bausteine/VBG

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