«Ich räkle mich für die Touristen»

Bauchnabel

Mein Job ist einfach: Er besteht vor allem darin, dass ich am Strand liege, mich in der Sonne räkle, meinen Körper sanft und wellenartig bewege und mit den Touristen flirte. Ich muss einfach schön sein.

Mir gelingt das ganz gut. Um ehrlich zu sein: Ich erinnere mich an keinen, wirklich an keinen, der meinem Charme letztlich nicht erlegen ist. Ich glaube sogar, dass meine Verführungskraft nahezu unendlich ist. Jedenfalls hat das einmal jemand in einem Prospekt über mich geschrieben. Die ägyptische Tourismusdirektion – für die ich letztlich arbeite – ist ganz zufrieden mit mir. Nur einmal hatten wir Probleme, aber mehr dazu später.

Den ganzen Tag mache ich also den Touristen und auch den Einheimischen schöne Augen. Die sind meist ganz heiss auf mich, und ich habe schon gehört, dass manche nur meinetwegen hierher kommen. Mann, das tut gut. Sie kommen nur wegen mir. Nur wegen mir! Ich könnte das stundenlang sagen. Ich werde sogar als Touristenattraktion gefeiert. Ich! Wooow.

Ich hab’s ja auch verdient, schliesslich mach ich den Job ja schon ein paar Jährchen. Alterserscheinungen habe ich keine und ich bin sicher, dass ich auch keine kriege. Ich und alt werden ... Nein, nein. Ich und alt? Niemals, nie!

Im Gegenteil, manche bezeichnen mich als ihren persönlichen Jungbrunnen. Ich finde das zwar ein wenig besitzergreifend, aber – naja, es ist okay.

Wenn ich so an mir runterschaue, ich will nicht eitel erscheinen, aber ich hab es nun so oft gehört, dass ich es glaube ... Wenn ich also an mir runterschaue, dann muss ich sagen: «Nobody is perfect – but my body is!» Will heissen: «Keiner ist vollkommen, aber meiner halt doch, mein Körper.» Manchen wird es heiss und kalt, wenn sie mich nur schon von weitem sehen. Wie gesagt, Alterserscheinungen habe ich keine. Keine Falte, nichts. Mein Alter weiss wohl niemand, und keiner stört sich daran. Ich bin reif und unwiderstehlich, mehr kann man gar nicht wollen. Die Frauen fahren auf mich übrigens genauso ab wie die Männer. Und dies, meine Damen und Herren, dies spricht ganz klar für meine Ausstrahlung.

Mein schärfstes Erlebnis

Doch eigentlich wollte ich ja mein schärfstes Erlebnis erzählen. Es muss nun schon ein paar Jahre her sein. Im Schätzen bin ich eben nicht so gut. Schätzen gehört zu meiner naiven Seite, die halt auch ein Teil von mir ist. Gestört hat sich daran jedenfalls noch niemand.

Also: Es war gegen Abend, da kamen plötzlich viele Menschen auf mich zu. Naja, das wäre ich ja noch gewohnt. Aber dann, statt auf mich loszustürmen, blieben sie stehen. Statt erfreut über meine Gegenwart, schienen sie sogar verzweifelt zu sein. Verzweifelt. Wegen mir! Unglaublich. Sie berieten und debattierten, mir schien, dass die ziemlich am Ende waren. Naja, ich mischte mich nicht ein, doch meine Anwesenheit störte sie offenbar aufs Heftigste.

Dann plötzlich fuchtelte der Vorderste von ihnen irgendwie mit seinem Wanderstab und berührte mich an meiner Seite. Eine eigenartige Sache. Aber was dann geschah, ist mir seither nie wieder passiert. Je länger er mich in meinem Bauch kitzelte, desto heftiger wurde dieses Gefühl. Irgendwie gingen plötzlich ein paar heftige, kühle Winde, und als ich dann an mir herunterschaute, war mein Bauch ganz einfach nicht mehr da! Ich war in zwei Hälften geteilt! Und alle diese Typen latschten mitten durch mich hindurch. Können Sie sich das vorstellen. Sie latschten mitten durch mich hindurch! Mit Frauen, Kindern, Tieren und Wagen. Es erschien mir wie eine Völkerwanderung. Tat überhaupt nicht weh! Das kitzelte sogar recht angenehm. Vergnügt kicherte ich vor mich hin. Das hätte von mir aus noch stundenlang so weitergehen können ...

Und dann hörte ich von weitem ein Poltern, und noch so eine komische Reisegruppe nährte sich. Allerdings viel schneller. Die hatten Pferde und Waffen dabei. Bloss das nicht! Ich mag nicht Blut bekleckert werden. Doch was konnte ich tun?

Ich sah, dass die erste Reisegruppe schon fast auf der anderen Seite war richtig pressierte, während die andere mich nun erreicht hatte. Kurz blieben sie stehen. Den vordersten von ihnen hatte ich schon einmal gesehen. Irgendwo auf einer Münze, doch sein Name ist mir entfallen. Ist auch nicht so wichtig. Er gestikulierte wild und tobte. Mich beachtete er nicht einmal. Frechheit. Laut brüllend rannten sie in mich hinein, während die erste Delegation nun draussen war. Der Anführer der ersten drehte sich nun um zu mir. Was sollte nun als nächstes geschehen? Irgendwie war ich die Hauptdarstellerin in einem Film und kannte meinen Dialog nicht einmal. Sie lachen? Ich finde das gar nicht witzig!

Dann nahm dieser Typ wieder seinen Stock in die Hand, blickte zum Himmel und sprach dort mit jemandem. Und plötzlich fühlte ich mich wie angerempelt. Ein Ruck ging durch mich hindurch, und ich war wieder ... äh, nennen wir das einfach mal komplett. Kein Graben mehr da. Ich war wieder ein schönes Ganzes, wie eh und je. Aber hoppla! Da war doch noch was. Es war mit einem Mal so still. Warum bloss? Wie von Hornissen gestochenen waren die Reiter herangebraust, und jetzt waren sie nirgends mehr zu sehen. Aber wenn ich mich ganz ruhig verhielt und mich richtig konzentrierte, dann konnte ich ein Zappeln und Strampeln in mir fühlen. Mit der Zeit wurde aber beides schwächer und hörte schliesslich ganz auf.

Die andere Gruppe, die die durch mich hindurchgegangen ist (durch mich hindurch, ich kann das heute noch kaum glauben!), die machte nun ein Dankesfest. Halt doch wegen mir? Wer weiss ...

Seit vielen Jahren, seit es Touristenführer gibt, werde ich fast täglich an diese unglaubliche Geschichte erinnert. Beide Gruppen hätten damals nur wegen mir debattiert! Wusste ich’s doch. Mir widersteht man nicht. – Ach ja, entschuldigen Sie! Ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Ich bin eben gewohnt, dass man mich kennt. Mich pflegt man einfach «Schilfmeer» zu nennen. Meine Geschichte ist sogar in einem Buch nachzulesen. Das heisst Bibel. Sie steht dort sogar ziemlich weit vorne drin, im 2. Mose 14. Waren sie also doch begeistert von mir.

Datum: 16.06.2004
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet.ch

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