Gegen Stress hilft Sinn: Warum Pförtner mehr Stress haben als Manager

Arbeit

Es ist ein überraschendes Phänomen: Obwohl wir in unserer Gesellschaft über mehr Freizeit verfügen als alle Generationen zuvor, sind stressbedingte Erkrankungen auf dem Vormarsch. Neuere Untersuchungen zeigen, dass der für den Menschen schädliche Stress nicht in erster Linie von der Zahl der Arbeitsstunden oder der Last der zu tragenden Verantwortung abhängt, sondern hauptsächlich von zwei Faktoren: wie wir miteinander umgehen und welchen Sinn wir in der Arbeit sehen. Im vierten Teil unserer Lebenshilfe-Serie beleuchtet der Psychotherapeut Ulrich Giesekus (Freudenstadt), wie man stressbedingte Störungen verhindern kann und welche Bedeutung dem christlichen Glauben dabei zukommt. Giesekus ist Mitarbeiter der Bildungsinitiative für Prävention, Seelsorge und Beratung.

Krankenkassen und Berufsgenossenschaften berichten laut “ärztezeitung-online” (Februar 2002), dass für die Entstehung stressbedingter Störungen die beruflichen Rahmenbedingungen viel entscheidender sind als die eigentliche Arbeitslast. Der überraschende Befund: Berufsgruppen mit den häufigsten stressbedingten Erkrankungen (z.B. psychosomatische Beschwerden, Nervosität, Erschöpfungszustände) sind nicht die mit den längsten Arbeitszeiten oder drückender Verantwortung. Nicht eine 50- bis 60-Stundenwoche würde also den meisten Stress machen! Betroffen sind stattdessen Pförtner, Hausmeister, Reinigungskräfte, Köche und Altenpfleger. Also die, die nach der allgemeinen Vorstellung viel “Drecksarbeit” machen und wenig Dank bekommen. Wer dagegen die eigene Arbeit selbständig und verantwortungsvoll planen kann und gute Beziehungen zu Vorgesetzten und Kollegen hat, leidet nur sehr selten unter stressbedingten Störungen. Das bedeutet: Der subjektive Eindruck “Ich stehe voll im Stress” und das tatsächliche Schadenspotential durch Stress stimmen nicht immer überein. Äusserst schädlich ist in jedem Fall das Gefühl, dass die eigene Arbeit minderwertig bzw. unbedeutend sei.

Warum lebe ich überhaupt?

Stress als Krankheit vorzubeugen, bedeutet in erster Linie also, durch die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Art der Arbeit einen Bezug zwischen der Arbeit und dem eigenen Lebenssinn herzustellen. Die Antworten auf die Frage “Warum lebe ich überhaupt?” und die Frage “Was tue ich hier eigentlich jeden Tag?” müssen zusammen passen. Nehmen wir einmal ein Beispiel aus der Berufsgruppe mit den häufigsten stressbedingten Störungen: Ein Pförtner, der seine Stunden absitzt und dabei mehr oder weniger stupide die Werksausweise kontrolliert, Tore öffnet und schliesst und irgendwelchen Unbekannten Wegbeschreibungen gibt, um Büros zu finden, in denen etwas passiert, wozu er keinerlei Beziehung hat. Von den anderen Mitarbeitern wird er respektlos als eine Art “menschliche Türöffnermaschine” gesehen. Er füllt diese Tätigkeit nicht mit Sinn – und wird daher mit hoher Wahrscheinlichkeit unter seiner Arbeit leiden und an ihr krank werden. Wahrscheinlich ist auch für das Unternehmen seine Arbeit von eingeschränkter Qualität – weil er sie lieblos und mechanisch macht.

Die andere Perspektive

Nehmen wir einmal an, dieser Pförtner gewönne eine ganz neue, sinngefüllte Sichtweise des wichtigen Dienstes, den er tut. Wenn er sich beispielsweise als “Visitenkarte des Unternehmens” wahrnehmen würde, denn er begegnet dem Besucher zuerst! Er könnte auch darauf verweisen, dass er einen wichtigen Beitrag zum Erfolg des Unternehmens leistet, weil er an der Pforte das Unternehmen vor Schaden schützt und damit Arbeitsplätze sichert; weil er durch eine freundliche Begrüssung zur Motivation der Mitarbeiter beiträgt; weil er Besuchern das Gefühl vermittelt, willkommen und wichtig zu sein; weil er jeden kennt und damit eine wichtige Informationsquelle sein kann, usw. Sich so wahrnehmen, ist kein Psychotrick, sondern eine tiefere Sicht dessen, welche Bedeutung diese Arbeit hat. Das Beste wäre natürlich, der Vorgesetzte würde dem Mitarbeiter – hier dem Pförtner – diese Sicht vermitteln. Tut er es nicht, sollte sich der Pförtner selbst diese Sichtweise aneignen.

Arbeiten – zur Ehre Gottes

Ist der Pförtner Christ, sieht er seinen Arbeitsplatz zudem aus geistlicher Perspektive. Die christliche Einstellung zum Beruf lautet: “Mein Anliegen ist es, Gott zu ehren – mit dem ganzen Leben, also auch durch meine Arbeit.” Wer sich an seine Stelle berufen weiss, kann auch mit Rückschlägen, Niederlagen und eigenem Versagen besser umgehen. Beruflicher Erfolg und Anerkennung sind sicherlich erwünscht, aber eben für einen Christen nicht mehr entscheidend. Die Erfahrung des Glaubens – “Ich bin bedingungslos geliebt, angenommen und unendlich wertvoll” – übersetzt sich im Alltag zu einem stabileren Selbstwertgefühl, welches von gesellschaftlichen Bewertungen unabhängiger wird. Nicht selten mit der Folge, dass sich Freude an der Arbeit und Anerkennung als “Nebeneffekt” einstellen, wenn die Sinnfrage gelöst ist. Stressbewältigung ist also in erster Linie eine Frage der inneren Einstellung und nicht zuerst der Reduzierung von Arbeitsstunden.

Sinn nicht aus Augen verlieren

Was kann man also tun, um eine “stressresistente” innere Einstellung zu bekommen? Zwei Faktoren sind entscheidend. Erstens: die eigene feste Bereitschaft, den tiefen Sinn der eigenen Aufgabe nicht aus den Augen zu verlieren. Das bedeutet, die Arbeit auch dann zu leisten, wenn sie mich vordergründig nicht befriedigt. Dazu muss ich allerdings von ihrem Sinn überzeugt sein. Bin ich das nicht, sollte ich eine “sinnvollere” Aufgabe suchen. Der zweite Faktor ist das Eingebundensein in ein kommunikationsfähiges Team, in das die eigene Person mit ihren Gaben und Schwächen hineinpasst.

Berufung entdecken

Bei der Suche nach einer Aufgabe, die zu den eigenen Begabungen und Interessen passt, sollte man eine qualifizierte seelsorgerliche Beratung nicht unterschätzen. Das gemeinsame Gebet, Stillewerden und Hören, ehrliche Rückmeldungen usw. sind hilfreich. Die Frage nach der Berufung durch Gott steht bei Christen im Vordergrund beruflicher Entscheidungen – was aber nicht heisst, dass wir hier nicht selber denken dürfen oder sollen. In der Regel nimmt Gott uns durch eine Berufung nicht die eigenen Entscheidungen ab, sondern gibt uns durch seinen Geist Kraft und Mut zu eigenverantwortlichen Schritten. Zu diesen gehört auch, sich und die eigenen Möglichkeiten realistisch einzuschätzen. Ob in der psychologischen Praxis mit Hilfe von Persönlichkeitstests oder durch Gespräche mit Bekannten aus verschiedenen Berufen, durch einen Besuch beim Arbeitsamt oder in der Zusammenarbeit mit einem Seelsorger: Die meisten Menschen brauchen Anstösse und Reflektionen durch andere, um für sich selber einen guten Weg zu finden.

Jede Arbeit ist “heilige Tätigkeit”

Bei beiden zentralen Aufgaben – Sinn finden und in ein Team passen – wird also der persönliche Glaube und die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde einen wesentlichen (wenn nicht sogar den entscheidenden) Anteil haben. Die Bibel sagt: “Alles, was ihr tut oder sagt, soll im Aufblick zu Jesus, dem Herrn, geschehen … tut alles von Herzen, als Leute, die dem Herrn und nicht Menschen dienen!” (Kol. 3,17 u. 23). Wer diesen biblischen Auftrag mit Leben füllen kann, weil das Alltagsleben in der Beziehung mit Jesus gelebt und erlebt wird, hat bereits wesentliche Schritte getan, die eigene Tätigkeit mit Sinn zu füllen. Wenn wir in dem Bewusstsein leben, dass jede Aufgabe im Dienst Jesu eine “heilige Tätigkeit” ist, können gesellschaftliche Wertmassstäbe verblassen. Und: Wer dem Vorbild des Apostels Paulus folgend, “sich täglich der eigenen Schwachheiten rühmen” kann (2. Kor. 12,9), hat es sehr viel leichter mit der Selbstannahme.

Teamfähigkeit und Gemeinschaftssinn

Auch was das Eingebundensein in eine Gemeinschaft betrifft, kann die christliche Gemeinde vielfach als ein Ort bedingungsloser Annahme und positiver Selbstbestätigung dienen. Leider gibt es zwar auch in der Gemeinde Jesu viel zu häufig die “feinen Leute”, die “ehrenvolle” Aufgaben wahrnehmen, und andere, die zu spüren bekommen, dass sie weniger wertgeachtet sind. Doch Jesus lehrt seine Jünger, dass es “im Reich Gottes so nicht ist” (Mt. 20,25 ff.). Und in der Tat bildet sich Reich Gottes auch in der gelebten Gemeinschaft der Gotteskinder ab, was sich dort zeigt, wo “einfache Dienste” wirklich wertgeachtet werden und “ehrenvolle Personen” in echter Bescheidenheit dienen. Das ist, bei aller berechtigten Kritik an der “real existierenden” Gemeinde, gar nicht so ungewöhnlich (wenn auch nicht perfekt!) – und es ist einer der Gründe dafür, dass Menschen, die einer christlichen Gemeinde angehören, im Durchschnitt länger, gesünder und fröhlicher leben als der Durchschnitt der Bevölkerung.

In der Gemeinde lernen

Für viele Christen gilt, dass die Erfahrung persönlicher Wertschätzung und die Möglichkeit, eigene Gaben zu entdecken sowie einzusetzen, in der Gemeinde erlebbar wurde. Auch was die Kommunikationsfähigkeit betrifft, kann die Gemeinde ein Ort sehr guter Lernerfahrungen sein (man vergleiche z.B. einen durchschnittlichen christlichen Jungendkreis mit den Kommunikationsmustern in der Schulklasse). Also, auch wenn es negative Ausnahmen gibt: Teil einer normalen “gesunden” Gemeinde zu sein, ist ein deutlicher Präventivfaktor für stressbedingte Erkrankungen.

Wenn alles zu viel wird

Natürlich gibt es das auch: Menschen, die ihrer Begabung entsprechend in einer für sie sinnvollen Tätigkeit stehen, dabei teamfähig sind – und die nicht das Falsche, sondern zu viel vom Richtigen tun. Auch hier stehen im Hintergrund in der Regel innere Einstellungen, die ungünstig sind und die letztlich der Botschaft des Evangeliums widersprechen. Ich nenne ein paar der häufigsten:
1. Für Jesus muss man alles richtig machen.
2. Um sicher zu gehen, dass keine Fehler passieren, muss ich es wohl selber machen.
3. Ich muss, um ein gutes Zeugnis zu sein, alle anderen zufrieden stellen.
4. Wenn ich “nein” sage, habe ich jemanden enttäuscht / Unrecht getan und fühle mich schuldig.
5. Ich bin für die Fehler der anderen verantwortlich (besonders als Leiter).
6. Als Christ muss ich immer zur Verfügung stehen, wenn “Not am Mann” ist; besonders in der Gemeinde. Der Sonntag ist dadurch eigentlich auch ein Arbeitstag.

Vergebung und der “Mut zur Lücke”

Diese Einstellungen kann man ändern und gezielt an ihnen arbeiten: So kann ich z.B. bewusst durch “qualifiziertes Vernachlässigen” üben, Fehler zuzulassen und dann beobachten, was passiert (meistens: gar nichts); Ich kann lernen, “nein” zu sagen; Ich kann lernen, Aufgaben zu delegieren (auch andere sind von Gott begabt!); ich kann Mut zur Lücke entwickeln (Vertrauen). Nicht zuletzt: Ich kann Schuld erkennen und mit Gottes Hilfe umkehren, wenn ich z.B. das Feiertagsgebot verletze. Und dann sei noch an einen Faktor erinnert: Stressresistenz hat nicht nur geistliche und seelische Aspekte, sondern auch enorm wichtige körperliche Voraussetzungen. Ausreichende Ruhezeiten, genügend Bewegung und eine vielseitige Ernährung, bei der nichts übertrieben wird (auch nicht die Gesundheit!) sind von elementarer Bedeutung für den, der seinen Stress “meistern” will.

Datum: 08.07.2002
Quelle: idea Deutschland

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