Nach dem Bundesgerichtsurteil: Körperstrafen in der Familie verboten?

Strafen

Das Bundesgericht hat ein Grundsatzurteil gegen Körperstrafen an Kindern in der Familie gefällt. Ist jetzt eine Welle von Anklagen und Gerichtsverfahren gegen Eltern zu erwarten? Dazu die Fakten und ein Kommentar.

Der Fall: Zwei Kinder im Kanton Waadt hatten vom Konkubinatspartner ihrer Mutter über einen Zeitraum von rund drei Jahren etwa zehn Ohrfeigen und Fusstritte in den Hintern erhalten. Zudem hatte der Mann eingestanden, die Kinder gewohnheitsmässig an den Ohren zu ziehen. Der Vater der Kinder hatte ihn deswegen im Juni 2001 angezeigt.

Die Waadtländer Justiz leistete der Anzeige jedoch keine Folge, weil dem "neuen Vater" ein Züchtigungsrecht zukomme, nachdem er seit drei Jahren mit der Frau und ihren Kindern in eheähnlicher Gemeinschaft zusammenlebe. Das Bundesgericht hat diesen Entscheid auf Beschwerde des leiblichen Vaters nun aufgehoben.

Wiederholte Tätlichkeiten

Von gelegentlichen Züchtigungen kann laut Bundesgericht nicht mehr gesprochen werden. Vielmehr handle es sich um eine auf physischer Gewalt basierende Erziehung. Der Angezeigte habe damit wiederholte Tätlichkeiten im Sinne von Artikel 126 Absatz 2 des Strafgesetzbuches begangen, die von Amtes wegen zu verfolgen seien. Laut dem Bundesgerichtsurteil stellen Fusstritte überdies eine erniedrigende Behandlung dar, die durch keine irgendwie geartete Erziehungspflicht gerechtfertigt werden könne. Jede Form der Gewalt und demütigender Behandlung gegenüber Kindern sei heutzutage geächtet, halten die Lausanner Richter in ihrem Grundsatzentscheid weiter fest.

Schutz durch Bundesverfassung

Auf internationaler Ebene sei der Kinderschutz Gegenstand verschiedener Normen. In der Schweiz seien erniedrigende Behandlung und Züchtigungen rechtswidrig, wenn sie die körperliche, psychische oder geistige Integrität von Kindern beeinträchtigen oder gefährden würden. Dies ergebe sich direkt aus der Bundesverfassung. Im besonderen dürften die Eltern keine Gegenstände benutzen, die eine Körperverletzung verursachen könnten.

In welchem Umfang gibt es denn noch ein Recht zu leichten körperlichen Züchtigungen? Das Bundesgericht lässt die Frage in seinem neuen Urteil offen und äussert sich auch nicht dazu, ob eine getrennt lebende Mutter den allenfalls noch verbleibenden Rest eines Züchtigungsrechts gegen den Willen des Vaters der Kinder an ihren neuen Lebenspartner delegieren kann.

Die heikle Problematik konnte umschifft werden, weil das zu beurteilende Verhalten des neuen Freunds der Mutter aus Sicht des Bundesgerichts ohnehin weit über das hinausging, was als Erziehungsmassnahme noch gerechtfertigt werden könnte. Wer Kinder ein Dutzend Mal innert dreier Jahre mit Hand und Fuss traktiert, wendet eine auf Gewalt basierende Erziehungsmethode an, gegen die der Richter sogar von Amtes wegen einzuschreiten hat.

Kommentar
Das Urteil fällt in eine Zeit grosser Verunsicherungen. Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen häufen sich. Familien- und jugendpsychologische Beratungsstellen sind vom Andrang überfordert und müssen sich erst noch für ihre Tätigkeit rechtfertigen, damit sie nicht Opfer von Sparmassnahmen werden. Eine ganze Industrie hat sich auf Kinder und Jugendliche eingeschossen, die an Profit, und nicht an jugendgerechten Angeboten interessiert ist. Immer mehr Eltern sehen sich gezwungen, Doppelverdiener zu werden, um die Familie anständig durchzubringen. Das geht auf Kosten der Betreuungszeiten. Andererseits ist die heutige Struktur der Kleinfamilie für die Kindererziehung nicht die geeignetste Form und sehr krisenanfällig. Eltern sind zudem oft tief verunsichert über den Wirrwarr an Erziehungsstilen, die sich wie die Sommermode abwechseln.

Dazu kommt, dass es keine flächendeckende Erziehungsberatung gibt. Alle können Kinder haben, ohne dass sie sich auf die Erziehungsaufgabe vorbereiten müssen. So sind Überforderungen programmiert. Das Pendel im Erziehungsverhalten der Eltern kann zwischen Laisser-faire und überzogener Strenge hin- und herschwanken. Das neue Urteil könnte bewirken, dass Eltern eher verunsichert werden, Regeln und Grenzen durchzusetzen, wenn man riskiert, vor den Kadi gezogen zu werden, falls die Hand mal ausrutscht.

Die Angst, eine unnötige oder gar verbotene Körperstrafe einzusetzen, kann aber auch zu übertriebener psychischer Gewalt führen - von Anschreien zur Isolation bis zur schweren Demütigung - die in schweren Fällen theoretisch auch unter Strafe steht, aber schwieriger festzustellen ist. Damit aber kann grösserer Schaden entstehen als durch eine Ohrfeige zuviel.

Es ist durchaus eine Kunst, "verhaltensauffällige" Kinder zu führen und dabei ganz konkret und entschieden auch Grenzen zu setzen. Entscheidend ist dabei, und das wird auch vom Bundesgerichtsurteil - soweit man auf die Pressetexte abstellen kann - nicht in Abrede gestellt: Körperstrafen sind nicht generell verboten, wenn sie mit Überlegung und mit Mass eingesetzt werden. Sie dürfen aber nicht zum dominierenden Erziehungselement werden und keine körperlichen Schäden verursachen. Der berühmte Klaps auf den Hintern ist nicht verboten, und manchmal wirkt er fast schon Wunder.

Wenn Eltern aber merken, dass sie in Gefahr sind, die Grenze zu überschreiten, insbesondere wo sie sich ertappen, affektiv zu handeln und dreinzuschlagen, ist der Weg in die Eltern- und Erziehungsberatung angesagt. Solche Familien brauchen oft auch eine zeitweilige Entlastung, indem Kinder stundenweise oder auch für eine längere Zeit von einer andern Familie aufgenommen werden. Innerhalb der christlichen Gemeinschaft gibt es hier viele Chancen. Und schliesslich ist auch die Fürbitte von einfühlsamen christlichen Mitmenschen für betroffene Eltern mit "schwierigen" Kindern eine Aufgabe, die nicht unterschätzt werden sollte.

Quelle: NZZ / Livenet.ch

Datum: 14.07.2003
Autor: Fritz Imhof

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