Jahrestagung in Wilderswil/Interlaken

„Wir werden, was wir schauen“

„Denn was ich im Auge habe, bildet mich. Wir werden, was wir schauen.“ Zu diesem viel versprechenden Thema – in Anlehnung an eine Aussage des Theologen Heinrich Spaemann zu 2. Kor. 3,18 – versammelten sich rund 40 Interessierte zur Jahrestagung der Arbeitsgruppe „Psychologie und Glaube“ in Wilderswil/Interlaken.
Augen

Die theologisch fundierten und von Praxiserfahrung zeugenden Referate beleuchteten die Frage: Handelt es sich bei der Imagination um eine therapeutisch-klinische Heilbehandlung oder um einen spirituellen Heils- und Entwicklungsweg? Und wie wirkt das, was sich der Mensch vor das innere Auge stellt, auf sein Wesen und sein Sein?

Gisela A. Cöppicus, Fachpsychologin für Psychotherapie FSP, Zürich, referierte über die Imagination als therapeutischen Tagtraum und als „Tor zum Göttlichen“. Ein eindrückliches Fallbeispiel stellte den inneren Weg einer ihrer Klientinnen dar, welche auf imaginativer Ebene im Rahmen einer katathym-imaginativen Psychotherapie (KiP) innere Wiederherstellung und Heilung erleben durfte. Margrit Schiess, Pfarrerin und Ausbildnerin in ignatianischen Exerzitien und Leiterin des ökumenischen Zentrums für Meditation (Rorbas), referierte über die Rolle der Imagination im spirituellen Prozess.

Den Teilnehmenden wurde folgende Definition der Imagination angeboten: „Imagination kennzeichnet das Vermögen eines bildhaft anschaulichen Vorstellens. Es ist eine frühe Stufe des Denkens, nämlich eines Denkens in Bildern und gilt als primäre Bewusstseinstätigkeit ... Sie ist prärational, geht also der Fähigkeit der Verbalisation voraus ... hat einen starken affektiven Gehalt ... und bildet unbewusste Konflikte symbolhaft ab .... Die Imagination verbindet und überwindet Zeit und Raum ... Im vorstellungsbezogenen, also bildhaften Sprechen stellt sich ein gemeinsamer imaginärer Raum her, in dem sich Therapie abspielt, und der als Projektionsfläche gesehen werden kann, als Übertragungs- und Übungsfeld.“

Imagination in der katathym-imaginativen Psychotherapie (KiP)

„Die KiP ist eine psychodynamische Therapie, die mit der Seele gemässen, d.h. gefühlsgetragenen, bildhaften Vorstellungen arbeitet“. In einer katathymen Imagination wird uns sowohl die eigene Ohnmacht aufgezeigt als auch deren mögliche Überwindung und Wandlung. Dabei soll ein intensives Durcharbeiten und Nachbearbeiten der inneren Bilder stattfinden. Das affektive Material wird so mit dem Alltagsbewusstsein in Verbindung gebracht, und das Gesehene beziehungsweise Erlebte findet seine Übersetzung in den Alltag. „Imagination hilft uns also, zu den in tieferen Schichten eingelagerten Konflikten und Einsichten vorzustossen, sie in symbolisch bildhafter Form sichtbar zu machen, Ressourcen zu wecken und unbewusste und blockierte Handlungsantriebe freizusetzen.“

Beim Imaginieren kann sich der Mensch auch einer weiteren Dimension öffnen: dem Transzendenten und Göttlichen. Menschen begegnen dann in ihren katathymen Bildern Gestalten mit transzendentem Charakter wie zum Beispiel Jesus oder Maria. Der Gründer der KiP, Hanscarl Leuner, verstand diese „inneren Führer“ rein psychologisch als idealisierte Leitfiguren. Aus der Sicht einer auf Gott ausgerichteten Therapeutin wäre dies eher als ein „Gewähren einer Offenbarung“ (Leanne Payne) zu betrachten. Solche Momente sind ein Geschenk, und sie sind von intensiven Gefühlen des Ergriffenseins begleitet. „Betrachten wir und wissen wir um die Dimension Gottes als höchste und letztgültige Realität, können wir auf intuitive Weise mit dem Herzen sehen und hören; wir stehen im Glauben.“

Spirituelle Bedürfnisse

Gisela A. Cöppicus nimmt auch die spirituell-religiösen Bedürfnisse von Patienten, die sich als areligiös bezeichnen, ernst. Es ist ihr Anliegen, dass sich diese entfalten können und dass aus der unbewussten Sehnsucht eine bewusste Suche wird. Sie betont: „Themen und Bilder mit religiöser Anmutung erscheinen wie Samenkörner: Sie wollen aufgehen“. Die katathym-imaginative therapeutische Technik erweist sich als ausgezeichnetes Werkzeug, um den Boden für den Samen vorzubereiten. Wichtiger als jede Technik ist jedoch der Beziehungsaspekt. Die Begleitperson wird zum Teil des Bodens, welcher diesen Samen zum Gedeihen bringen kann.

Ein Fallbeispiel: Die Patientin Lena hatte in einer dreijährigen Therapie während den Tagträumen mit verschiedenen so genannten „inneren Führern“ in tierischer und menschlicher Gestalt zu tun gehabt. Diese Erfahrungen hatten sie jedoch nicht nachhaltig geheilt. Erst in der imaginierten Begegnung mit dem Jesuskind und Maria erlebte sie die Wirkung einer fundamentalen und bedingungslosen Liebe, die allein so frühe Wunden heilen kann, wie sie Lena zugefügt worden waren, und die die Abspaltungen überwindet und das Getrenntsein aufhebt, so die These der Referentin.

Gisela A. Cöppicus betont, dass wir ja im tiefsten Grund unserer Existenz das Ursprünglichste, das Grundlegendste und uns Ausmachende in seiner höchsten Ausprägung finden. Die Gottessehnsucht widerspiegle unseren fundamentalen Wunsch, bedingungslos angenommen und geliebt zu sein.

In manchen Fällen kann die Liebesfähigkeit der Therapeutin oder des Therapeuten, die ja immer begrenzt ist, nicht tief genug greifen. Cöppicus: „Eine auf das Letztgültige, auf Gott, bezogene Therapeutin kann jedoch mit ihrem Glauben Mittlerin sein; sie kann auch bei der Patientin eine Offenheit für das Göttliche und Gottgewollte ermöglichen ... Es geht dann nicht (nur) um therapeutische Machbarkeit, ... sondern – über alle therapeutische Kompetenz hinaus – vor allem um eine Haltung der Offenheit und des Empfangens, die eine Heilung auch als Geschenk und Gnade – als Ereignis – betrachtet.“ Der meist jahrelange Heilungsprozess bei schweren seelischen Störungen, so die Schlussfolgerungen der Referentin, könne wohl nicht wesentlich verkürzt werden; aber Heilung könne tiefgreifender geschehen und sich auch dort ereignen, wo sie menschenunmöglich scheine.

Imagination im spirituellen Prozess

Margrit Schiess beschrieb die Imagination im spirituellen Prozess. Vor allem in der ignatianischen Spiritualität spielt sie eine wichtige Rolle. Ignatius (1491 in Spanien geboren), der Verfasser des Exerzitienbuches, strebt durch die Imagination ein Leben an, wie es Jesus Christus gelebt hat. Dazu musste er sich immer wieder das Leben von Jesus vorstellen. Ignatius gab Exerzitien, in denen er Christustexte aus den Evangelien meditieren liess. „Die Botschaft der Bibel wird in konkreten Erzählungen und Worten in diese Assoziationen mit einbezogen, und somit geht es hier nicht nur um die eigene assoziative Erweiterung von Erfahrungen wie in vielen therapeutischen Imaginationen“. Als Ausgangspunkte solcher Meditationen werden nicht nur einzelne biblische Texte, sondern auch Bilder oder Meditationsbücher gebraucht.

Am Anfang der ursprünglich 30-tägigen ignatianischen Exerzitien entsteht eine einfache Form der Imagination. Eigene Lebenserfahrungen werden mit Gottesbildern und Verheissungen der Bibel konfrontiert und ausgestaltet. Es folgt eine Phase der Reinigung. In der Phase der Nachfolge wird der Übende aufgefordert, sich mit all seinen inneren Sinnen auf die Erzählungen des Lebens Jesu einzulassen.

Hier kommt es oft zu einem ganz tiefen Berührtsein und einem neuen Entdecken der Bibel. In der dritten Woche geht es um die Passion, das heisst um die bewusste Auseinandersetzung mit verschiedensten Formen von Leiden, mit Angriffen von aussen und mit menschlichen Grenzen. Das Ziel davon ist, die Liebe Jesu durch alles hindurch stärker zu spüren und auch das Durchtragen einer wichtigen Aufgabe zu lernen. In der vierten Woche steht die Auferstehungserzählung im Mittelpunkt – und damit die Auferstehungsprozesse im eigenen Leben. Betrachtungen über die Liebe als Ziel des christlichen Weges schliessen die Exerzitien ab.

Autorin: Catherine Ernst

Datum: 14.08.2004
Quelle: Bausteine/VBG

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