Mehr Aussteiger

Sind die Erwartungen an Prediger zu hoch?

Mehr Prediger, Pastoren und Pfarrer steigen aus und wenden sich einem andern Beruf zu. Manchmal schon nach wenigen Dienstjahren. Was steckt dahinter? Idea Spektrum befragte Peter Gloor, einen der drei Regionalleiter der Schweizer Chrischona-Gemeinden.
Gottesdienst in einer Freikirche.
Peter Gloor

Warum steigen heute immer mehr Prediger aus dem vollzeitlichen Dienst aus?
Peter Gloor: Das Problem ist multifaktoriell. Es gibt verschiedene Untersuchungen, die teils zu gleichen Ergebnissen kommen. Früher war ein Ausstieg viel weniger ein Thema als heute. Dies ist auch ein Abbild unserer Gesellschaft. Berufswechsel sind heute normal. Man hat mehr Möglichkeiten und bildet und entwickelt sich bewusst weiter. Dazu kommt, dass die Erwartungen an Prediger oft sehr hoch sind. So vielfältig wie die Gemeindeglieder sind, so vielfältig sind die Erwartungen. Das Arbeitspensum liegt bei vielen Vollzeitern deutlich über 50 Stunden pro Woche. Und immer gäbe es noch mehr zu tun. Manchmal fehlt die Wertschätzung. Man muss damit leben können, dass die Gemeinde stagniert und andere Gemeinden wachsen. Die eigenen Erwartungen können das Ganze noch verschärfen.

Ist das Stellenprofil überfrachtet oder sind die Erwartungen einfach zu hoch?
Die eierlegende Wollmilchsau geistert immer noch durch die Gemeindelandschaft. Da bleiben Enttäuschungen nicht aus. Die hohen Erwartungen an den Prediger entstammen oft einem alttestamentlichen oder «katholischen» Predigerbild. Er ist Vermittler, geistlicher Leiter und soll seine Herde weiterbringen. Bonhoeffer sagte einmal: «Alle Idealbilder von Gemeinden müssen zerstört werden, sonst zerstören sie die Gemeinde.» Der Gedanke des allgemeinen Priestertums ist zwar neutestamentlich und zutiefst evangelisch, aber in der Umsetzung sind wir manchmal weit davon entfernt.

Könnten Lehrkräfte während der Ausbildung nicht spüren, wer einmal aussteigen wird?
In der Ausbildung am TSC (Theologisches Seminar St. Chrischona) haben wir etliche «Sicherungen» eingebaut. Um nur einige zu nennen: Die Studierenden haben einen persönlichen Mentor und sind in einer Lebensgruppe integriert. Seit einigen Jahren gibt es das Praxisstudienjahr, in dem eins zu eins die Praxis erlebt wird. Dazu kommen Standortgespräch, ein Kolloquium und die Lebensgemeinschaft auf St Chrischona. Die Studenten bekommen also immer wieder ehrliche Feedbacks, wo sie stehen. Wenn bei jemandem Zweifel über die Eignung bestehen, wird dies auch klar ausgesprochen.

Wie kann ein Prediger den Herzschlag der Gemeinde spüren und umgekehrt?
Gespräche führen! Fragen stellen und gegenseitig gut zuhören. Und Gott immer wieder fragen: Wie siehst du meine Gemeinde?

Wie werden Prediger auf ihre speziellen Gaben geprüft und an entsprechenden Dienstorten eingesetzt?
Bei Chrischona Schweiz gibt es das klassische Versetzungssystem nicht mehr. Vor einem Wechsel laufen heute mehrere Gespräche. Die Gemeindeleitung erstellt ein Profil, was sie sich von einem Prediger wünscht. Der Prediger kennt seine Gaben, Stärken und Schwächen. So kann einiges im Voraus geklärt werden. Eine hundertprozentige Sicherheit, dass die Chemie dann stimmt, gibt es trotzdem nie. Wenn die Zusammenarbeit nicht klappt, braucht es Mut, einen Wechsel einzuleiten. Für die Predigersfamilie ist dies stets ein sehr schmerzhafter Prozess, da auf einen Schlag Arbeitsort, Wohnort, Gemeinde und viele Beziehungen wechseln.

Was könnte Predigern helfen, einen Ausstieg zu vermeiden?
Eine realistische Selbsteinschätzung und zu den eigenen Grenzen zu stehen. Den Ruhetag und Ferien einhalten. Unabdingbare Elemente für einen langfristigen Dienst sind: regelmässige Stille und Rückzug, eine permanente Weiterbildung und eine gute Work-life-balance. Sich immer wieder Zeit nehmen, das zu tun, was einem einfach Freude macht und gut tut. Was ganz wichtig ist, sind persönliche Gebetspartner und Vertrauenspersonen, mit denen man offen reden kann. Gerade Christen in Leitungsfunktionen sind oft stark von der unsichtbaren Welt angegriffen.

Berufen zum vollzeitlichen Dienst und dann ausgestiegen: Wie ist das zu erklären?
Das ist für die Betroffenen und fürs Umfeld die schwierigste Frage. Berufung hat im evangelikalen Umfeld einen sehr hohen Stellenwert. Die Frage ist: Wozu bin ich berufen? Ist die Berufung deckungsgleich mit dem Prediger-Beruf? Oder kann ich meine Berufung auch in einem andern Beruf leben?

Was raten Sie, wenn ein Ausstieg aus dem vollzeitlichen Dienst unumgänglich scheint?
In jedem Fall professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Das Ganze verarbeiten, trauern und auf keinen Fall bagatellisieren. Den Fokus auf Jesus richten und ihn fragen, was er möchte. Gut abschliessen, vergeben, falls Konflikte da sind.

Mehr zum Thema: www.chrischona.ch unter «Membre care»

Rund ein Viertel steigt bald wieder aus

Theologisches Seminar St. Chrischona:
Zeitraum: 1985-2004
Ordiniert: 411
Noch im Dienst: 314
Aussteiger in Prozent: 24

EMK/Evangelisch-methodistische Kirche
Zeitraum: 1990-2000
Ordiniert: 57
Noch im Dienst: 42
Aussteiger in Prozent: 27

Theologisches Seminar Tabor
Zeitraum: 1985-2004
Ordiniert: 268
Noch im Dienst: 204
Aussteiger in Prozent: 24

Nicht alle Ausbildungsstätten können verlässliche Zahlen liefern. Auch die hier vorliegenden sind infolge Ausnahmefällen und Systemänderungen mit Vorsicht zu geniessen. Ausserdem besteht eine gewisse Dunkelziffer, da nicht alle Absolventen eruiert werden konnten. (Untersuchung von Thomas Prelicz, Chrischona-Prediger in Arth, Masterarbeit IGW «Prediger werden, Prediger sein, Prediger bleiben?»)

Datum: 01.09.2008
Autor: Esther Reutimann
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

Publireportage
Werbung
Livenet Service
Werbung