Interview

Das Evangelium in seiner Radikalität leben

Die Arbeitsgemeinschaft für Gemeindeaufbau (AGGA) ermutigt reformierte Pfarrerinnen und Pfarrer, das grandiose Angebot des Evangeliums von Jesus Christus wie auch das Anstössige der Guten Nachricht in die Gemeindearbeit einzubringen. Livenet.ch sprach anlässlich einer theologischen Tagung in Männedorf (vgl. Artikel am Dienstag) mit dem AGGA-Präsidenten Pfr. Edi Pestalozzi (Basel)
Edi Pestalozzi

Edi Pestalozzi, warum führen Sie eine Theologen-Tagung zum Thema „Verkündigung von Gericht und Gnade“ durch?
In der Geschichte der Theologie gibt es einen langen Streit um die Allversöhnung (die Auffassung, dass Gott am Ende alle Menschen mit sich versöhnt, dass er niemand durch Gericht von seiner Gemeinschaft ausschliesst; Red.). Wir wollen mit der Tagung ganz bewusst diese Thematik aufnehmen, indem wir auf die biblischen Texte hören und sie miteinander bewegen. Theologen vor uns haben darüber diskutiert; auch unsere Generation kommt nicht an der Frage vorbei. In der Tagung fragen wir auch: Was bedeutet das für unsere Verkündigung?

Heute nimmt man das Böse in der Welt wieder massiver wahr. Der US-Präsident redet von einer ‚Achse des Bösen‘. Da meldet sich die Frage, ob denn alles heil werden kann...
Ja, wir leben in einer Zeit, in der die Apokalypse für viele Menschen sehr nahe gerückt ist. Die Fragen um Ende und Überleben beschäftigen sie. Da ist es ganz wichtig, zu den biblischen Texten zurückzukommen und zu hören, was das Wort sagt.

Täuscht der Eindruck, dass heute die wenigsten Pfarrer das Gericht Gottes in ihren Predigten zum Thema machen? Es ist kaum je die Rede davon, dass wir Menschen es in der Hand haben, uns vom Segen und von der ewigen Gemeinschaft mit Gott auszuschliessen.
Es ist nicht unsere Aufgabe, das Gericht zu predigen. Wir sind dazu da, das Evangelium, die Gute Nachricht von der Rettung durch Jesus Christus, weiterzugeben. Und dabei ist zu erwähnen, dass man sich selber von der Gnade Gottes ausschliessen kann. Ich persönlich ringe darum, angemessen von Heil und Gericht zu reden. Wie rede ich davon, wie bringe ich diese Realitäten zum Ausdruck?

Die Arbeitsgemeinschaft für Gemeindeaufbau (AGGA) wurde als Verein 1987 gegründet, um Pfarrer und Pfarrerinnen zu ermutigen. Sie haben heute an der Tagung angetönt, dass manche Pfarrer sich zurückhalten, weil sie Auseinandersetzungen in der Gemeinde scheuen oder fürchten, im Regen stehen gelassen zu werden.
Die 90-er Jahre waren geprägt von interessanten Würfen und Modellen für den Gemeindeaufbau. Es war spannend, dies zu beobachten. Viele Kollegen probierten die Modelle aus. Mittlerweile haben wir erkannt, dass es letztlich nicht auf die Methode ankommt. Wie baue ich eine Gemeinde auf? – Diese Frage wird beantwortet, indem sich Menschen ganz hineingeben, weil sie von der Radikalität des Evangeliums bewegt werden. Da stellt sich für uns Pfarrer in der Landeskirche die Frage nach dem Preis.

Was heisst ‚Radikalität des Evangeliums‘ für die Arbeit im Pfarramt?
Das Evangelium hat immer eine gesellschaftskritische und auch eine kirchenkritische Dimension. Daraus ergibt sich im Pfarramt eine Spannung. Wir von der AGGA wollen Pfarrerinnen und Pfarrer unterstützen, in dieser Spannung zu leben und zu bestehen.

Die AGGA wurde gegründet, um Impulse charismatischer Frömmigkeit in den reformierten Landeskirchen fruchtbar zu machen. Sie haben von der Begeisterung für neue Modelle der Gemeindearbeit in den 90-er Jahren gesprochen. Hat sich der Schwung von damals verloren?
Ich denke, es geht nach wie vor darum, den Missionsauftrag, den Christus uns gegeben hat, zu leben. Wir wollen auf alle Fälle dranbleiben. Die Falle ist, dass wir das in gewissen möglichen Nischen der Landeskirche leben. Das Evangelium zielt immer auf das Ganze, also auf die ganze Gesellschaft, die ganze Kirche. Da liegt noch viel Arbeit vor uns.

Wir suchen dafür Partner und haben darum auch diese Tagung gemeinsam mit der Schweizerischen Evangelischen Pfarrgemeinschaft, der kantonalen Initiative ‚Ufwind i dr Bärner Chiuche‘ und der schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für eine biblisch erneuerte Theologie (AfbeT) durchgeführt.

Wie eng arbeitet die AGGA mit den erwähnten Vereinigungen zusammen?
In einer guten Familie ist es schön, wenn Geschwister ganz verschieden sind. Die vier Vereinigungen setzen unterschiedliche Akzente, und das ist gut so. In der Grundausrichtung stimmen wir weitgehend überein.

Was möchte AGGA in den reformierten Landeskirchen der Deutschschweiz verändern?
Anfang Mai findet in Winterthur eine Konferenz ‚Heile unser Land‘ statt (siehe www.schleife.ch ). Es geht darum, die Geschichte der Gewalt von Reformierten an Täufern, die mit Zwingli einsetzte, zu reflektieren mit dem Ziel der Versöhnung. Verschiedene AGGA-Vertreter wirken in der Vorbereitungsgruppe mit. Ich hoffe, dass die Konferenz einen wichtigen Impuls gibt, der in unseren kantonalen Kirchen gehört wird.

Ich bin überzeugt, dass die Täuferbewegung des 16. Jahrhunderts manche Aspekte des Evangeliums so radikal und klar gelebt hat, dass Staat und Kirche nicht anders als mit Ausschluss und Verfolgung reagieren konnten. Über die damalige kirchengeschichtliche Situation will ich nicht urteilen, auch nicht behaupten, die Täufer hätten sich in allem recht verhalten. Es scheint mir aber ganz wichtig, dass wir ihren Motiven nachspüren und überlegen, ob wir in den Landeskirchen durch das Abschlagen dieser Hand* der Täufer, die zu unserer Bevölkerung, unserem Kirchenvolk gehörten, nicht einen Teil unserer Identität verloren haben.

Ich erhoffe von der Konferenz eine Rückbesinnung auf eine gesunde Radikalität und Einfachheit, das Evangelium zu leben – das sind für mich die besonderen Merkmale der Täuferbewegung. Die Täufer suchten die biblischen Texte im praktischen Leben umzusetzen. Das muss neu aufgenommen werden in den Landeskirchen, die zur Verkopfung und zuviel theologischer Überlegung neigen, wobei die Umsetzung ins praktische Leben, das Vermitteln des Kerns des Evangeliums und auch soziales Engagement zu kurz kommen.

Webseite: www.agga.ch

* Ein Buch des Berner Pfarrers Paul Veraguth zur Täuferproblematik mit dem Titel ‚Die abgehauene Hand‘ wird in den nächsten Wochen erscheinen.

Datum: 12.03.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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