Aufgeweckt und aufmerksam

Eutychus-Gottesdienste: Erwecklich für Leib und Seele

Wie kann man einen Gottesdienst aufgeweckt gestalten?
Friedrich Zahn nimmt die biblische Geschichte des Eutychus als Ausgangspunkt dafür, was erweckliche Gottesdienste sein können. Der Pastor würdigt augenzwinkernd den Kirchenschlaf und zeigt, wie unsere Veranstaltungen wach machen für das Reden Gottes.

Es geschah in den 80er-Jahren auf einer theologischen Woche in Ewersbach. Es gab viele Beiträge und Vorträge. Ich sass oben auf der Empore. Der Nachmittagsvortrag, an dessen Thema ich mich nicht mehr erinnere, gehört zur Kategorie «Mach End, o Herr». Nicht, dass Falsches gesagt wurde, aber es war nach meiner Meinung weder wichtig noch relevant, noch geistlich bewegend. Mehrere hatten Mühe, sich wach zu halten.

Kennen Sie den Kampf mit dem Schlaf bei Vorträgen, Diskussionen oder Gottesdiensten? Um nicht einzuschlafen, versuchte ich Vieles: das Mitschreiben, das Malen auf dem Notizpapier, Bewegung, soweit das im Sitzen möglich ist. Da ich am Rand eines Aufgangs sass, kam, was kommen musste: Im Halbschlaf verschwand ich mit lautem Gepolter samt Stuhl im Treppenaufgang. Für die erschrockenen Zuhörer war mein Unglück ein Glück. Jetzt kam Leben in die schläfrige Schar. Der Vortrag stoppte abrupt.

Vom müden zum wachen Glückspilz

In die Stille rief der Referent: «Ist was passiert?» Von oben antwortete jemand: «Eutychus ist von der Fensterbank gefallen.» Mein Sturz war die Botschaft des Nachmittags. Viele erzählten einen Tag später nicht, was der Referent gesagt hat, aber sie konnten sagen, was «Eutychus» bewirkt hat: einen im wörtlichen Sinn erwecklichen Gottesdienst, zu dem man sagte: «Gott Dank, du hast Glück gehabt.»

Eutychus heisst übersetzt tatsächlich «der Glückspilz». Sein Sturz ist für ihn und alle Beteiligten ein Glück. Die Bibel erzählt auch nicht, worum es in der Predigt des Paulus in Apostelgeschichte 20 ging, aber die Geschichte von Eutychus, der damals während der Predigt von der Fensterbank fällt, zu Tode kommt und zum Leben erweckt wird, bleibt unvergessen.

Wach auf – darum geht es schon immer, wenn Gott spricht. Der Weckruf Gottes zieht sich durch die ganze Schrift. Mehrfach heisst es in den Psalmen: «Wach auf, meine Seele!» Jesaja schreibt: «Wach auf! Jerusalem, wach auf!» Paulus ruft: «Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.» Die Gemeinde in Sardes wird wachgerüttelt: «Werde wach und stärke, was schon im Sterben liegt.» Wer einschläft, auch im geistlichen Sinn, bekommt nichts mehr mit, nimmt nichts mehr auf. Er riskiert mit Eutychus seine Zukunft. Können wir aus den Ereignissen in Troas für unsere Gottesdienste heute etwas lernen?

Frische Luft kommt gleich nach dem Heiligen Geist

Der Autor Friedrich Zahn

Verschiedene Umstände führen zu diesem pastoralen Unglück mit Todesfall. Es ist eine banale, leider oft unterschätzte Erkenntnis: Frische Luft hält wach! «Und es waren viele Öllampen in dem obersten Stockwerk, in dem wir versammelt waren» (Apostelgeschichte Kapitel 20, Vers 8).

So dumm ist das von Eutychus nicht, sich in die Fensteröffnung zu setzen. Er hat von früh bis abends gearbeitet. Freie Tage in der Woche gibt es damals nicht. Er will live dabei sein. Zwei Faktoren machen es ihm aber schwer, für Gottes Wort wach zu bleiben: Er ist erschöpft von der Arbeit und fehlender Sauerstoff verstärkt seine Müdigkeit. Wohl der Gemeinde, die sich um sauerstoffreiche Luft im Gottesdienst bemüht und deren Zuhörer schon Samstagabend alles tun, um am Sonntag wache Sinne zu haben – es könnte durchaus um Leben und Tod gehen.

Auch die beste Predigt kann ermüden

Der Gottesdienst in Troas beginnt am Abend und dauert ausdrücklich bis zum Morgengrauen. Paulus redet und redet und redet. Es ist sein letzter Besuch und sein letzter Tag in der Gemeinde. So eine Chance muss genutzt werden. Da wollen viele Vieles loswerden. Jeder, der Gottesdienste verantwortet, kennt das: Dies muss noch gesagt werden, jener soll noch zu Wort kommen und ein geplanter persönlicher Bericht sprengt jedes Zeitmass. Ich habe es als Pastor auch geschafft, wo nötig, eine vorbereitete Predigt spontan wegzulassen. Die Zeit war mehr als fortgeschritten und alles bisher Gesagte war aus meiner Sicht genug gute, geistliche Kost.

Darum halte ich mir immer wieder dieses Bild vor Augen: Alle Beiträge eines Gottesdienstes sind wie ein reichhaltiges Buffet. Irgendwann ist man satt. Da spielt es keine Rolle, ob etwas gut, wichtig, verführerisch ist. Es geht einfach nichts mehr rein. Dieses Bild sollten Musiker, Verkündiger, Gottesdienstleiter nie vergessen. Es braucht wache Sinne, um den Punkt zu erkennen, wo man unverkrampft Beiträge weglässt, ohne gleich den Satz anzufügen: Jetzt beten wir noch – kurz. Der Schluss in Troas war anders.

Schätze die Bedeutung ungeplanter Ereignisse

Ungeplante Ereignisse im Gottesdienst können zum grossen Wachmacher, ja zur entscheidenden Botschaft werden. In der spontanen Reaktion auf ungeplante Ereignisse wird viel deutlicher, wie geistesgegenwärtig wir sind.

Der Gottesdienst in Troas weckt auf. Es gibt nicht nur fromme Worte über die Köpfe hinweg, sondern die Gemeinde erlebt die Kraft des Auferstandenen. Genau genommen passiert der unvergessliche Moment zwar während des Gottesdienstes, aber nicht im Gottesdienst. Einige sehen noch, wie Eutychus im Fenster nach unten verschwindet. Er stürzt zwei bis drei Stockwerke tief auf die Strasse. Es dürfte ziemlich Unruhe gewesen sein. Viele rennen die Treppen runter. Aber bevor es oben weitergeht, geht es erst einmal unten vor dem Haus weiter.

Erweckliche Gottesdienste setzen sich im Alltag unten auf der Strasse fort. Sie hinterlassen Menschen, die mit Gottes Gegenwart ausserhalb des Gottesdienstes rechnen. Das Leben kann müde machen, so müde, dass wir sogar mitten in der Gemeinde einschlafen. Wenn der auferstandene Herr im Mittelpunkt steht, wachen Menschen auf und er führt die Gemeinde und Schläfer ins Leben zurück.

Kleines Plädoyer für den Kirchenschlaf

Vielleicht würden heute viele zu Eutychus sagen: «Mensch, wenn du so müde bist, dann schau dir die Predigt von Paulus später auf YouTube an.» Aber genau damit hätte Eutychus die Sensation seines Lebens verpasst. Die Begegnung mit dem Auferstandenen im Abendmahl und das persönliche Wunder kann er per YouTube nicht mehr nachholen.

In allen Gemeinden erlebte ich Leute, die schon mal während der Predigt einschliefen. Einer ist exakt beim Amen aufgewacht – aber er war live dabei. Auch im Schlaf hört der Mensch. Lieber Präsenzschlaf in der Gemeinschaft der Gemeinde, als das Entscheidende zu verpassen. Und sollte einer doch einschlafen, dann hat er immer noch die Verheissung: «Den Seinen gibt es der Herr im Schlaf.»

Ich plädiere auf Grund dieser Geschichte für die Präsenzteilnahme an Gottesdiensten. Wenigstens im katholischen Raum wird Eutychus und seine Geschichte angemessen gewürdigt, denn dort kennt man ihn als «Sitzungsheiligen».

Beruhigt euch und stellt Jesus ins Zentrum

Unten auf der Strasse erweckt Paulus den toten Eutychus zum Leben. Das ist für die junge Gemeinde nicht nebensächlich, denn es wäre eine bedrohliche Schlagzeile geworden: «Junger Mann bei den Christen tödlich verletzt!»

Da, wo es die Ehre des Herrn und seine Sache erfordert, dürfen seine Leute um Gottes besonderes Helfen und Eingreifen bitten. Der Arzt Lukas ist zwar dabei, aber er kann nur noch den Totenschein ausstellen. Übrigens ist Eutychus das achte und letzte Auferstehungswunder in der gesamten Heiligen Schrift.

Paulus hat Gottes Wort vor Augen. Er achtet wie Jesus darauf, dass nicht das Wunder in den Mittelpunkt rückt, sondern das Wunder zum Zeichen und zur Botschaft wird. Er tut zwei sehr weise Dinge, die dazu führen, dass nicht eine Sensation gefeiert wird, sondern der Herr:

  1. «Keine Panik! Macht keinen Lärm und beruhigt euch! Er lebt. Rechnet mit der Gegenwart des Auferstandenen. Beruhigt euren Geist, indem ihr Jesus ehrt als den, der auch das zu unserem Besten dienen lässt.» Erwecklicher kann ein Gottesdienst nicht mehr werden, denn Eutychus wird ins Leben zurückgeholt und die ganze Gemeinde wird gefestigt und ermutigt.
     
  2. Paulus bricht den Gottesdienst nicht ab, sondern setzt direkt mit der Abendmahlfeier fort. Die Gemeinde feiert Tod und Auferstehung eines Menschen mitten in der Feier von Tod und Auferstehung des Herrn. Das wird kein Beteiligter je vergessen. Mit der Mahlfeier sorgt er dafür, dass nicht seine eigene Person, sondern Jesus als der auferstandene Herr im Zentrum bleibt. Das verlangt eine demütige Haltung. Der Gottesdienst in Troas endet nicht mit einer verstörten und verwirrten Schar, sondern mit Menschen, die höchst interessiert bis zum Morgengrauen weiter der Predigt lauschen. Keiner schaut auf die Uhr. Sie sind erweckt an Leib und Seele. Er – und auch Eutychus – ist wahrhaftig auferstanden.

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Datum: 07.04.2024
Autor: Friedrich Zahn
Quelle: Magazin Christsein Heute 3/2024, SCM Bundes-Verlag

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