Vergeben können

Bin ich dann nicht der Dumme?

Vergeben und dem Anderen nichts nachtragen, tut uns gut. Wer nach dieser Devise lebt, der zieht ganz schnell den Kürzeren, sagen andere. Was stimmt jetzt?
«...Vergeben ist ein Willensakt.»

Vor allem im beruflichen Alltag braucht es die Fähigkeit sich durchzusetzen. Andernfalls laufte man Gefahr nicht ernst genommen zu werden oder ganz auf der Strecke zu bleiben, sagen viele.

Eine ganz andere Einschätzung vertritt der Psychotherapeut und Priester Dr. Jörg Müller. Anderen zu verzeihen und Fehler nicht nachzutragen sollte zur Lebenspraxis jedes Menschen gehören. Dabei sei Vergeben kein Zeichen von Schwäche, sondern es verlange Kraft und zeuge von Charakterstärke.

Eine negative Spirale

Der Pallottinerpater Dr. Jörg Müller aus München warnt vor einer Spirale, die dadurch in Gang komme, dass man anderen Menschen nicht vergibt und sich dadurch auch selbst immer verletzlicher macht. «Wer Kränkungen nicht vergibt, sie eher sammelt, wird auch selbst schnell wieder gekränkt sein. Andere wundern sich dann, dass derjenige so empfindlich reagiert.» Wer nicht vergebe, so Müller, mache sich selbst das Leben schwer.

Müller vertritt keineswegs die Ansicht, dass die Bereitschaft zur Vergebung eine defensive Eigenschaft ist. Es gehöre zum Umgang mit anderen, vergeben zu können, genauso wie seinen Standpunkt klar zu machen und auch streiten zu können.

Blickwechsel hilft weiter

Wer sich schwer tue, anderen zu vergeben, so Müller, solle versuchen eine andere Perspektive einzunehmen. «Auch derjenige, der verletzt, ist selbst ein Verletzter. Diese Perspektive hilft oft.» Es gehe darum den anderen nicht nur als Täter wahrzunehmen, sondern zu sehen «dieser Mensch braucht Verständnis, braucht Ruhe, braucht Liebe und er braucht Gebet. Er ist selbst ein Opfer und gibt die selbst erfahrene Verletzung weiter.» Hinter dem verletzenden Verhalten von Menschen stehe oft der Wunsch, selbst frei von Verletzungen und Einschüchterungen zu werden.

Aus seiner langjährigen Praxis als Seelsorger und Therapeut wisse er, dass die allermeisten Kränkungen, die Menschen durch andere erfahren, gar nicht wirklich denen gelten würden, die sie erlebten. Dahinter ständen oft unbewältigte Erfahrungen mit anderen Menschen, meist aus der Kindheit und die zu dem verletzenden oder kränkenden Verhalten eines Menschen führten.

Wie oft vergeben?

Petrus, ein Mann, der drei Jahre lang mit Jesus unterwegs war, fragte einmal, wie viel Vergebungsbereitschaft er aufzubringen habe. Von dem Gespräch zwischen den beiden berichtet die Bibel in zwei knappen Sätzen: «Da fragte Petrus: ‚Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er mir Unrecht tut? Ist siebenmal denn nicht genug?’ ‚Nein’, antwortete Jesus. ‚Nicht nur siebenmal, sondern siebzig Mal siebenmal.’ » (Die Bibel, Matthäusevangelium, Kapitel 18, Verse 21 - 22)

Für die Juden war die Sieben eine Zahl der Vollkommenheit. Es ging also nicht darum genau 490mal zu vergeben, wohlgemerkt pro Tag, sondern eben immer wieder, so oft wie nötig.

Ein langer Weg

Dr. Jörg Müller macht zugleich deutlich, dass es leicht sei zu vergeben; oft sei es ein langer Weg, der dabei zurückzulegen sei und den man nicht abkürzen könne. «Vergeben heisst, es nicht mehr vorzuwerfen, auch wenn die Gedanken immer wieder da sind und die Gefühle vielleicht noch jahrelang verletzt sein können. Denn Vergeben ist ein Willensakt.»

Genau diesen festen Entschluss, diese Bereitschaft zum Vergeben, empfehle die Bibel, wenn sie dazu auffordere, jemandem sieben mal siebzig mal zu vergeben – und das jeden Tag – zu vergeben. «Gott verlangt nur diesen Willensakt von uns» und nicht, dass sich die Gefühle gegenüber dem anderen schnell veränderten.

Buch zum Thema:
Jörg Müller: Die Kunst der Vergebung

Datum: 25.10.2011
Autor: Norbert Abt
Quelle: Jesus.ch

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