Römerbrief: Ein Schlüsseldokument

Martin Luther

Wie kaum ein anderes biblisches Buch hat der Römerbrief die Geschichte der Kirche geprägt. Schon bei der Entstehung des Neuen Testaments wurde dem Römerbrief eine zentrale Rolle zuerkannt. Entweder wurde er am Schluss (Canon Muratori) oder (seit dem 3. Jahrhundert) am Anfang der Briefe aufgeführt.

Da die Paulus-Schriften allgemein als schwer verständlich galten, entstanden seit Origenes (ca. 185 – 254) viele Auslegungen dazu. Vom zweiten bis zum 15. Jahrhundert wurden mindestens 32 bedeutende Kommentare verfasst.

Ob aus intellektuellem oder theologischem Blickwinkel betrachtet, der Römerbrief galt stets als Meisterwerk von Paulus. „Welche Macht des Geistes muss in diesem Paulus lebendig gewesen sein, dass er ein solches Werk in ein paar Nächten zu diktieren imstande war“, sagte der grosse Theologe Emil Brunner1.

Laut alten Quellen liess sich der Kirchenlehrer Chrysostomos2 diesen Brief wöchentlich einmal vorlesen; der Reformator Calvin sagte, er öffne die Tür zu allen Schätzen der Heiligen Schrift.

„Hauptstück des Neuen Testaments“

In seiner „Vorrede zum Römerbrief“ (1522) schrieb Martin Luther: „Diese Epistel ist das rechte Hauptstück des Neuen Testaments und das allerlauterste Evangelium, welches wohl würdig und wert ist, dass sie ein Christenmensch nicht allein von Wort zu Wort auswendig wisse, sondern täglich damit umgehe als mit täglichem Brot für die Seele.“ Wer den Römerbrief versteht, so Luthers Überzeugung, dem erschliesst sich nahezu die gesamte Bibel.

Paulus habe damit nicht nur die ganze christliche und evangelische Lehre zusammengefasst, sondern auch den Zugang zum Alten Testament gebahnt: „Denn ohne Zweifel, wer diese Epistel im Herzen hat, der hat des Alten Testamentes Licht und Kraft bei sich. Darum lasse sie ein jeglicher Christ sich gemein (vertraut) und stetig in Übung sein. Da gebe Gott seine Gnade zu. Amen.“
Luther fürchtete sich vor Gott und Christus als den unerbittlichen Weltenrichtern. Diese Angst trieb ihn um. Sein Freund riet ihm: „Ihr müsst Doktor oder Prediger werden, so kriegt ihr etwas zu schaffen.“

Luthers Durchbruch

Ab Herbst 1512 hält Luther Vorlesungen in Wittenberg. Doch auch dieses Schaffen vertreibt seine Angst nicht. 1515/16 folgt eine Römerbrief-Vorlesung. Besonders bei Römer 1,17a3 bleibt er stehen. Er beginnt die Wendung „Gerechtigkeit Gottes“ zu hassen, weil er sie als Eigenschaft Gottes versteht, durch die Gott die Ungerechten bestraft. Auf der Suche nach einem gnädigen Gott ringt der Theologieprofessor mit Gott und lehnt sich gegen ihn auf: „Als ob es nicht genug ist, dass der Sünder durch das Gesetz bedrückt wird, muss Gott auch noch durch das Evangelium seinen Zorn androhen?“

Obwohl Luther innerlich beinahe zu zerbrechen droht, lässt ihn dieser Vers nicht mehr los. Plötzlich geht ihm ein Licht auf. Sein Blick wird auf den zweiten Teil des Verses gelenkt: „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ Ihm wird klar, dass mit der Gerechtigkeit Gottes nicht Gottes Eigenschaft gemeint ist, die den Sünder verurteilt, sondern dass sie ein göttliches Geschenk darstellt, das dem Sünder zugute kommt. Gottes Gerechtigkeit ist es, die dem Glaubenden angezogen wird und ihn so rettet. Nun wurde diese Römerstelle für Luther „wie eine Pforte ins Paradies.“

Motor für den Pietismus

Die Vorrede Luthers zum Römerbrief wirkte stark auf den Pietismus ein. Von entscheidender Bedeutung wurde sie für John Wesley4, der am Abend des 24. Mai 1738 in Aldersgatestreet (London) eine Versammlung besuchte. Jemand las aus dieser Vorrede: „Der Glaube ist ein göttliches Werk in uns, das uns wandelt und neu gebiert aus Gott und tötet den alten Adam, machet uns ganz andere Menschen von Herzen, Mut und Sinn und allen Kräften und bringet den Heiligen Geist mit sich. ... Er (der Glaube) fragt auch nicht, ob gute Werke zu tun sind, sondern ehe man fragt, hat er sie getan und ist immer im Tun.“

In diesem Moment fühlte sich Wesley verwandelt. Es wird ihm zur Gewissheit, dass Jesus seine Sünden weggenommen und ihn vom Gesetz der Sünde und des Todes erlöst hat.

Enormer Einfluss

Der grosse Kirchenlehrer Augustinus wurde bei seiner Suche nach Gott durch den Römerbrief angesprochen, Luther beim Sehnen nach dem gnädigen Gott und Wesley beim Kampf um einen rettenden Glauben. Der einflussreiche Theologe des 20. Jahrhunderts, Karl Barth5, liess sich aus dem Römerbrief die zentrale Frage beantworten: „Wie kann ich, gerade ich Mensch, Gottes Wort, gerade Gottes Wort weitersagen?“ Mitten im Ersten Weltkrieg begann er mit der Auslegung des Römerbriefes. 1918 schloss er sie ab. In ihr eifert Barth für die Gottheit Gottes: „Gott ist Gott!“ In den Jahren 20/21 schreibt er eine zweite Fassung.

Immer wieder wurden Menschen durch den Römerbrief angesprochen: Coleridge6 hielt ihn für das „tiefsinnigste Werk, das jemals geschrieben wurde“; Luthers Nachfolger Melanchthon7 schrieb ihn zweimal eigenhändig ab, um sich damit vertraut zu machen. Der Schweizer Theologe Frédéric Godet nannte ihn „die Kathedrale des christlichen Glaubens“.

Eine letzte Stimme sei genannt: ZDF online zu Peter Hahne, dem bekannten Fernsehjournalisten: „Haben Sie eine Lieblingsstelle in der Bibel?“ „Ja, das ist ein Wort im Römerbrief, Kapitel 1, Vers 16: ‚Ich schäme mich des Evangeliums von Christus nicht, denn es ist eine Kraft Gottes.’ Das ist ein Zitat des grössten Intellektuellen der Antike, nämlich des Apostels Paulus.“

(Anm.)
1 in: der Römerbrief, S. 7
2 Johannes von Antiochien (Beiname Chysostomos = Goldmund) 344 bis 407, gilt als einer der grössten christlichen Prediger.
3 „Denn die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbart“
4 John Wesley (1703-1791) ist der Begründer der Methodistenkirche
5 Karl Barth (1886 – 1968). War evangelisch-reformierter Theologe und gilt im Bereich der europäischen evangelischen Kirchen aufgrund seiner theologischen Leistung als „Kirchenvater der 20. Jahrhunderts.
6 Samuel Taylor Coleridge (1772 – 1834), englischer Dichter
7 Philipp Melanchthon (1497 – 1560), Reformator, genannt „Praeceptor Germaniae“ (Lehrer Deutschlands), brachte die theologische Systematik in Luthers Lehre;

Artikel zum Thema:
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Römerbrief: Paulus von Tarsus

Datum: 06.02.2007
Autor: Felix Ruther
Quelle: Bausteine/VBG

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