Wirkliches Leben

Manche Menschen sind nur selten sich selber. Sie bemühen sich, ‚es allen recht zu machen’. Sie versuchen, ‚gut da zu stehen’ – vor sich selbst und vor anderen. Sie realisieren dabei oft lange Zeit nicht, wie sehr das eigentliche Leben an ihnen vorbei geht. Hermann Hesse hat dies auf seine ihm eigene Weise beschrieben:

„Zuzeiten spürte er, tief in der Brust, eine sterbende, leise Stimme, die mahnte leise, klagte leise, kaum dass er sie vernahm. Alsdann kam ihm für eine Stunde zum Bewusstsein, dass er ein seltsames Leben führe, dass er da lauter Dinge tue, die bloss ein Spiel waren, dass er wohl heiter sei und zuweilen Freude fühle, dass aber das eigentliche Leben dennoch an ihm vorbei fliesse und ihn nicht berühre.

Wie ein Ballspieler mit seinen Bällen spielt, so spielte er mit seinen Geschäften, mit den Menschen seiner Umgebung, sah ihnen zu, fand seinen Spass an ihnen; mit dem Herzen, mit der Quelle seines Wesens war er nicht dabei. Die Quelle lief irgendwo, wie fern von ihm, lief und lief unsichtbar, hatte nichts mehr mit seinem Leben zu tun.

Und einigemal erschrak er ob solchen Gedanken und wünschte sich, es möge doch auch ihm gegeben sein, bei all dem kindlichen Tun des Tages mit Leidenschaft und mit dem Herzen beteiligt zu sein, wirklich zu leben, wirklich zu tun, wirklich zu geniessen und zu leben, statt nur so als ein Zuschauer daneben zu stehen.“

Wir sind am lebendigsten, wir leben wirklich, wenn wir ganz bei uns sind. Wenn unsere gesammelte Aufmerksamkeit auf das gerichtet ist, was gerade ist, was wir im Moment tun. Zum Beispiel: Die kühle Luft wahrnehmen, wenn ich morgens das Haus verlasse. Mein Dahinschreiten bewusst erleben. Den ersten Sonnenstrahl auf meinem Gesicht geniessen. Die Türklinke in meiner Hand spüren und erfahren, wie es sich anfühlt, wenn ich den Raum betrete.

Natürlich können wir nicht den ganzen Tag so bewusst mit unseren Sinnen erleben. Das wäre eine Überforderung. Wir brauchen auch das Zuschauen, das Beobachten und Nachdenken. Aber es ist eine gute Übung, diese unmittelbare Achtsamkeit immer wieder bewusst zu pflegen. Denn wer mit all seinen Sinnen ganz gegenwärtig ist bei dem, was er tut, der beginnt selbst zu leben, anstatt gelebt zu werden. Der kommt in Berührung mit seinem wahren Wesen. Wo wir aber ganz uns selbst sind, ist Gott uns nahe.

Datum: 06.11.2008
Autor: Roman Angst
Quelle: Bahnhofkirche Zürich

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