Müssen wir die Sucht heute einfach akzeptieren?

Alkohol im Zug
Julia Wolf ist Naturwissenschaftlerin und Ethikern am Institut für angewandte Ethik und Medizinethik der Universität Basel.
Matthias Kaufmann ist Professor für Ethik am Institut für Philosophie der Universität Halle-Wittenberg. Er ist auch Mitautor und Herausgeber des Buches «Recht auf Rausch und Selbstverlust durch Sucht».

Wie wird die Gesellschaft in Zukunft auf Suchtverhalten reagieren? Welches ist die Aufgabe christlicher Institutionen im Drogenbereich? Fragen, die sich auch im Hinblick auf den 30. November stellen, an dem die Schweiz über das revidierte Betäubungsmittelgesetz und die Hanfinitiative abstimmt.

Das Magazin „ideaSpektrum Schweiz“ sprach dazu mit den Ethikern Julia Wolf und Matthias Kaufmann, die sich speziell mit Suchtfragen beschäftigen.

Was sagen Sie zum Motto «Irgend wie sind wir alle süchtig»?
Matthias Kaufmann: Das ist so richtig wie falsch. Einerseits haben wir alle unsere Wünsche und Ziele und sind nicht immer vernünftig in der Weise, wie wir sie verfolgen. Wir lassen uns gerne mal zu einem Gläschen einladen. Wir trinken Kaffee, um wieder munter zu werden, obwohl zu viel Kaffee ungesund ist. Allerdings gibt es einen Unterschied zu Menschen, welche die Selbststeuerung beim Konsum für Genussmittel verlieren. Plötzlich wird die nötige Alkoholdosis am Morgen immer grösser, um arbeitsfähig zu sein.

Ist die Gesellschaft heute toleranter mit den Süchtigen?
Julia Wolf: Früher war die Gesellschaft intoleranter, dafür wurden die Leute mit klaren Regeln konfrontiert. Heute gibt es mehr Orientierungslosigkeit und weniger Transparenz, wie Betroffene handeln sollten. Für Menschen, die abrutschen, kann es daher schwieriger sein, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren.

Matthias Kaufmann: Auf der einen Seite besteht eine gewisse Bereitschaft, die Süchtigen als verantwortliche Menschen zu akzeptieren. Die Neigung zur Ausgrenzung scheint zu sinken. Auf der andern Seite gibt es die Tendenz, zu sagen: «Ihr seid verantwortlich. Also sollt ihr auch bereit sein, euch einer Therapie zu unterziehen».

Wie viel Solidarität wird sich die Gesellschaft gegenüber Suchtabhängigen noch leisten?
Matthias Kaufmann: Es ist für die Gesellschaft teurer, nicht solidarisch zu sein. Man muss sich die Kosten der Ausgrenzung mit allen Konsequenzen wie der Beschaffungskriminalität vor Augen halten. Je länger man eine Behandlung hinausschiebt, desto schwieriger und teurer wird sie, und umso problematischer wird das Verhalten der Süchtigen.

Julia Wolf: Wenn man sich die Solidarität leisten will, dann kann man es auch. Die Frage stellt sich generell für das Gesundheitssystem in Zeiten knapper Ressourcen. Will sich die Gesellschaft eine Solidarität gegenüber Kranken aller Art leisten?

Wird man Betroffenen nicht zunehmend vorwerfen, sie hätten sich bewusst in die Sucht hineinbegeben?
Julia Wolf: Sucht ist kein individuelles Problem, die Gesellschaft hat ihre Mitverantwortung. Es ist wichtig, den Süchtigen nicht nur Verantwortung aufzubürden, sondern sie ihnen auch zuzugestehen. Verantwortungsfähigkeit ganz positiv verstanden, nicht nur als Schuldfähigkeit.

Matthias Kaufmann: Man muss ihnen die Folgen ihres Handelns vor Augen halten, nicht nur durch Vorwürfe, sondern indem man sie bewegt, sich mit ihrem problematischen Handeln ernsthaft zu beschäftigen. Das sind wir ihnen schuldig, denn wir sollen sie ernst nehmen und respektieren und nicht nur als Wesen ansehen, bei denen etwas schief gelaufen ist und die wir jetzt bemuttern müssen.

Braucht es noch Institutionen, welche die Abstinenz betonen?
Matthias Kaufmann: Der Abstinenzgedanke bei christlichen Institutionen scheint umstritten zu sein. Die Frage ist, ob die Institution auf der Abstinenz bestehen muss und sich dabei dem Vorwurf aussetzt, zu wenig flexibel zu sein. Aber sie sollte den Gedanken wach halten, dass Abstinenz besser ist als die Akzeptanz der Sucht. Dabei muss sie aufpassen, dass man ihr nicht Prinzipienreiterei vorwerfen kann.

Wie schätzen Sie die Gefahr ein, dass der Abstinenzgedanke unter die Räder gerät?
Julia Wolf: Das Hauptproblem ist der mangelnde Diskurs über Werte und Voraussetzungen. Ich meine, dass es Sache einer christlichen Institution ist, die Wertediskussion anzuregen und so der Tendenz zum pragmatischen Handeln auf der politischen Ebene entgegenzusteuern. Es wäre gut, wenn alle beteiligten Institutionen diesen Diskurs mitgestalten könnten.

Welches ist Ihre Meinung zu den Botellónes*?
Matthias Kaufmann: Vielen Leuten, die daran teilnehmen, geht es danach gar nicht gut. Verbote können aber bewirken, dass man die Botellónes als vermeintliche Paradigmen der Idee eines freien und genussvollen Lebensstils noch attraktiver macht. Wichtig ist die Deeskalation, um Menschen zu schützen. Ich hoffe aber, dass es sich hier um eine Modeerscheinung handelt, die sich wieder verläuft.

Julia Wolf: Verbote wären kontraproduktiv und könnten Botellónes gar zu einer Dauererscheinung machen. Man muss sie unter gewissen Bedingungen und Regeln wohl aushalten, sofern Dritte nicht geschädigt werden. Wenn aber andere gefährdet werden, muss man intervenieren.

* Die Botellónes sind ein aus Spanien stammende Brauch Jugendlicher und junger Erwachsener, die sich vornehmlich abends an den Wochenenden zum exzessiven Alkoholkonsum auf öffentlichen Plätzen versammeln. In den letzten Monate breiteten sich die Botellóns auch in der Schweiz aus.

Gibt es auch Abhängigkeiten bezüglich bestimmter Formen von Frömmigkeit?
Matthias Kaufmann: Das kennen wir im Gruppenverhalten in Sekten bis hin zu einer drogenartigen Besessenheit. Es gibt einen fliessenden Übergang. Die Frage ist, wie weit das Verhalten vom Einzelnen noch steuerbar ist, und wie weit es sein direktes Verhältnis zu Gott fördert. Oder ob der Einzelne durch eine Organisation gezielt gelenkt wird.

Julia Wolf: Die Individualisierung hat das Bedürfnis nach Gruppenerfahrungen geweckt. Hier gibt es Gefahren auch im politischen Raum. Im Bereich der Religion haben wir ein Problem, wenn der Glaube nicht mehr gelebt und in den Alltag umgesetzt wird, sondern nur noch das Erlebnis im Mittelpunkt steht.

Artikel zum Thema:
Schweizer Drogenpolitik: Uneinigkeit unter Christen

Datum: 24.10.2008
Autor: Fritz Imhof
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

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