‚Saddam entfernen‘ – und dann?

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Die Stabilisierung des Iraks nach der Entfernung Saddam Husseins von der Macht erscheint Fachleuten als eine kaum lösbare Aufgabe. Denn das Land ist am Boden; der Bürgersinn seiner Einwohner wurde abgewürgt.

Der Irak wurde durch den Golfkrieg 1991 schwer getroffen. Das folgende UNO-Embargo führte wegen der diktatorischen Politik von Saddam Husseins Regime dazu, dass jedes Jahr um die 50'000 Kinder starben, trotz Medikamenten- und Lebensmittellieferungen. Mehr als eine Million Iraker verliessen seit 1991 ihr Land; der zuvor gebeutelte, aber im regionalen Vergleich starke Mittelstand zerfiel. Der deutsche Irak-Kenner Peter Heine stellt im Tages-Anzeiger einen „Braindrain ungeheuren Ausmasses“ fest. Der evangelische Missionsexperte Patrick Johnstone schreibt von einer durch die grausame Diktatur Saddams „gebrochenen und demoralisierten Gesellschaft“.

Wer nicht emigrierte, hält das Maul

Die Emigrationswelle dürfte den Wiederaufbau des Iraks nach der von den USA betriebenen Entfernung Saddams erschweren. Denn die meisten Exil-Iraker werden sich nicht ins Heimatland zurückbegeben, wenn sie mit Anklagen, Repressalien und Rechtsunsicherheit rechnen müssen. Ein weiteres Problem in dem multi-ethnischen Staat besteht darin, dass die Schiiten, die die Mehrheit der Bevölkerung stellen, nie angemessen an der Macht beteiligt wurden. Die meisten Iraker sind im Überlebenskampf unter Saddam apolitisch geworden; sie suchen sich mit persönlichen Beziehungen zu Verwandten und Nachbarn über Wasser zu halten.

Die Mächtigen spielten die Religionsgemeinschaften gegeneinander aus und suchten sie intern zu spalten. Das war schon früher einfach, denn laut Heine kämpften „innerhalb der schiitischen Gemeinde in den 20er und 30er Jahren arabische, persische, indische und kaukasische Gelehrte um den bestimmenden politischen Einfluss. Heute stehen verschiedene schiitische arabische Gelehrtenfamilien in Konkurrenz zueinander.“

Bibeleinfuhr als Chance

Etwa ein Drittel aller Christen des Irak verliess das Land in den 90-er Jahren. Die Kirche der assyrischen ‚Chaldäer‘, mit Rom verbunden, hat noch um 120'000 Glieder; die orientalischen Kirchen (Assyrer, Syrer, Armenier) haben einige 10'000, die evangelischen höchstens einige tausend Glieder. Saddams Regime ging auch gegenüber der christlichen Minderheit mit Peitsche und Zuckerbrot vor; es liess einzelne Vertreter der Minderheit in hohe Ämter aufsteigen, um ihre Loyalität zu sichern. Die Kirchen durften in den letzten Jahren grosse Mengen von Bibeln und christlicher Literatur einführen oder im Land drucken. Die Not im Land hat bei vielen Irakern grundlegende religiöse Fragen geweckt.

Keine nationale Identität

Insgesamt ist die Bevölkerung in zahlreiche Gemeinschaften aufgesplittert, wozu die Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten und zwischen Arabern und Kurden beitragen. Die Kurden sind uneins; im Exil gibt es auch von der kleinen christlichen assyrischen Minderheit des Landes zwei Organisationen. Peter Heine folgert: „Nach einer militärischen Niederlage des Regimes von Saddam Hussein steht den Siegern die schwierige Aufgabe einer Rekonstruktion der irakischen nationalen Identität bevor, wenn es eine solche überhaupt jemals gegeben hat.“ Der Berliner Islam-Wissenschaftler bezweifelt, dass die Aufgabe als solche im Westen erkannt worden ist; aber ohne einen politisch stabilen Irak könne die Ölversorgung des Westens nicht gesichert werden.

Verbreiteter Wunsch nach Demokratie im Mittleren Osten

Weltgewandte Araber betonen immer wieder die Notwendigkeit der Demokratisierung ihrer Länder. Der Berliner Vertreter der Liga der Arabischen Staaten sagte in einem Vortrag, in der Bevölkerung sei das Gefühl weit verbreitet, „dass allein demokratische Strukturen bewirken könnten, dass die zahlreichen Probleme des Mittleren Ostens gelöst werden könnten. Die Bevölkerung sei es leid, dass ihre Probleme nicht angegangen würden, weil die politischen Entscheidungsträger vor allem mit dem eigenen Machterhalt beschäftigt seien.“

Ist das Völkerrecht überfordert?

Noch sind nicht alle Möglichkeiten ausgenutzt, die das Völkerrecht zur Konfliktlösung im Irak bietet. Dies jedenfalls ist die Meinung von Daniel Thürer, der an der Universität Zürich Staats- und Völkerrecht lehrt. Thürer betont in einem Beitrag für die Neue Zürcher Zeitung, dass „die Regeln über das Recht der Gewaltanwendung ein Grundelement, ja eine der grossen zivilisatorischen Errungenschaften des modernen Völkerrechts bilden“. Das Völkerrecht verbietet die Androhung und Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen. Die UN-Charta sieht dabei zwei Ausnahmen vor: „das alte Recht der Staaten zur (individuellen und kollektiven) Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff und das Recht des Sicherheitsrats, in Fällen einer Aggression, eines Bruchs des Friedens oder einer Bedrohung der internationalen Sicherheit Zwangsmassnahmen, auch solche militärischer Natur, durchzuführen oder zumindest zu autorisieren“.

Resolution 1441 ‚mehrdeutig‘

Laut Daniel Thürer schliesst die Resolution 1441 des UN-Sicherheitsrats vom 8. November 2002, die den Irak auffordert, Massenvernichtungswaffen zu eliminieren und den Inspektoren ungehinderten Zutritt zu gewähren, für den Fall ihrer Missachtung nicht unbedingt eine Ermächtigung zur Gewaltanwendung ein. „Im vorliegenden Fall ist die eigentliche Kernfrage, nämlich die Frage der Voraussetzungen legitimer Gewaltanwendung, im Text der Resolution absichtlich mehrdeutig, unklar beantwortet.“

Zuerst müssten alle friedlichen Mittel zur Sicherung des Friedens ausgeschöpft werden. „Auch sollen die Entscheidungsträger in ihr Kalkül die Risiken eines Flächenbrandes einbeziehen, der im Falle der Entfesselung der Gewalt ausbrechen und etwa Israel erfassen könnte.“ Daher urteilt Thürer, „dass militärische Aktionen im jetzigen Verfahrensstadium unzulässig sind“. Anderseits müsse der UN-Sicherheitsrat, der im Irak „zum ersten Mal in der Geschichte ein vielversprechendes supranationales Abrüstungsregime errichtet“ habe, dieses auch durchsetzen. „Ohne effektive Androhung von Gewalt durch die USA wäre der Sicherheitsrat nicht in Aktion getreten.“

Bewährungsprobe für die UNO

Für Thürer ist es ein „Gewinn an Fairness, dass dem Irak dank der Tatsache, dass der Sicherheitsrat über ‚Krieg und Frieden‘ zu entscheiden hat, ein Recht auf Anhörung eingeräumt wurde“. Im Blick auf die Tragfähigkeit des Völkerrechts stellt Thürer die Frage: „Wie können die menschenrechtlichen Prinzipien, die der Völkerrechtsordnung zugrunde liegen, auch unter widrigen Bedingungen zum Tragen gebracht werden?“ Zudem werde es künftig vermehrt asymmetrische Konflikte geben (nicht zwischen Staaten). Dafür brauche es „weltweit neue Formen der Konfliktregelung und –beilegung“.

‚Lassen wir es nicht zu, dass dieses Volk noch mehr gefoltert wird‘

Die Schweizer Bischöfe haben letzte Woche die gläubigen Menschen zum inständigen Gebet dafür aufgerufen, dass der Krieg im Irak nicht ausbricht und der „gute Menschenverstand" siegt: "Wir glauben an die Kraft des Gebetes, das fähig ist, Berge zu versetzen". Die Bischöfe wiesen auf das entsetzliche Elend des irakischen Volks hin. Ein Krieg, der vor

allem die Zivilbevölkerung des Landes treffen würde, wird abgelehnt: "Lassen wir es nicht zu, dass dieses Volk noch mehr gefoltert wird, denn noch sind nicht alle Wege des Dialogs ausgeschöpft, und noch gibt es keine eindeutigen Beweise für die durch den irakischen Diktator drohenden Gefahr."

Um jedoch einen allfälligen Krieg gegen Diktator Saddam Hussein zu rechtfertigen, brauche es "über alle Zweifel erhabene Beweise einer unausweichlichen und unmittelbaren Gefahr", wie dies Papst Johannes Paul II. mehrmals unterstrichen habe. Auch dann müsste sich die internationale Gemeinschaft "noch lange nicht Hals über Kopf in einen Krieg stürzen", wenn sich herausstellen sollte, dass der Irak wegen seines Diktators zu einer "realen Bedrohung für uns werden sollte", mahnen die Schweizer Bischöfe.

Auch warnen sie vor der Gefahr, durch einen Krieg gegen den Irak zahlreiche Muslime zu verletzen und das Gegenteil der erhofften Wirkung zu erzielen, indem mit einem "starken Anstieg terroristischer Bedrohungen durch fanatische Islamisten" zu rechnen wäre.

Welches Gewicht haben kirchliche Stimmen?

Am Wochenende kam es in zahlreichen Städten weltweit zu Protestdemos gegen einen Irak-Krieg. In der indonesischen Hauptstadt Jakarta gingen über 100'000 Personen auf die Strasse und machten dabei ihrer Wut auf die USA Luft. In Deutschland haben sich Kirchenvertreter besonders entschieden gegen die militärische Option ausgesprochen, solange andere Wege zur Entwaffnung Saddams möglich seien.

Laut einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geben dabei die protestantischen Kirchen den Ton an. „Viele ihrer Repräsentanten haben sich mit gutem Gespür für die Stimmung in den Gemeinden schon früh auf ein Nein gegen einen Waffengang im Irak festgelegt.“ Viele Katholiken wollten bei ihrem Nein nicht sehen, dass der Papst sich zwar einmischt, aber „die Grenze zwischen Glauben und Politik nicht überschritten hat“. Anders der EKD-Ratsvorsitzende Kock: Dass er einen Bezug herstellte zwischen der ‚fundamentalistischen‘ Denkweise von Präsident Bush und der Weltsicht gewaltbereiter Islamisten, geht im Urteil der FAZ „weit über das hinaus, was einem Kirchenführer frommt. Auch wer kategorisch für Frieden eintritt, macht sich unglaubwürdig, wenn er rationale Argumentation durch Feindbilder ersetzt.“

Engagiert – oder demagogisch?

Im Unterschied zur Erklärung von protestantischen und orthodoxen Kirchenführern vom letzten Mittwoch (Livenet berichtete) gaben die deutschen katholischen Bischöfe kein abschliessendes Urteil ab. Der Mainzer Kardinal Lehmann erinnerte vielmehr noch vor dem UNO-Auftritt Powells am Mittwoch daran, dass ein sittliches Urteil auf verlässlichem Wissen beruhen müsse. Mancher, der mit Recht für den Frieden eintrete, habe die reale Bedrohung, die vom Irak ausgehe, bis heute nicht richtig eingeschätzt.

Laut der FAZ sollten die Kirchen, „anstelle im Namen Gottes Politik zu machen, Politik in Verantwortung vor Gott und den Menschen ermöglichen. Doch in vielen evangelischen und katholischen Gemeinden ist gegenwärtig nicht die Stunde der Zweifler, sondern die der Demagogen.“

Datum: 11.02.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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