Rolf Weibel

Die Schweizer Katholiken, Rom und die Piusbrüder

Kirche als Dienstleistung und nicht als Ort, wo man partizipiert: Dies sei heute Trend, sagt Rolf Weibel, langjähriger Hauptredaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung und profunder Kenner der Verhältnisse in der katholischen Kirche der Schweiz. Die Annäherung des Vatikans an die Piusbruderschaft werde in der Schweiz von vielen nicht verstanden, betont Weibel im Interview mit der Presseagentur Kipa. Dies aber fördere den schon bestehenden "Kongregationalismus" in den Kirchgemeinden. Dieses Autonomiebewusstsein sei Bestandteil der reformierten Kirchen. Es entwerte die Stellung der Bistümer in den Pfarreien.
Hoch über den Häusern: Die römisch-katholische Kirche hat hierzulande die frühere Stellung verloren – und tut sich schwer damit.
Rolf Weibel
Ehrwürdige Gemäuer: Im Kreuzgang in Saint-Ursanne im Jura.
Ohne Erlaubnis aus Rom: Weihe von Subdiakonen durch die Piusbruderschaft, Ecône VS.
Ranfttreffen im Flüeli-Ranft
Basisdemokratische Forderungen: Tagung der „Tagsatzung im Bistum Basel“, Januar 2008

Wohin bewegt sich heute die katholische Kirche in der Schweiz?
Veränderungen gibt es auf der strukturellen Ebene und auf jener der Mentalitäten. Strukturell verändert sich die so genannte Volkskirche. Die Pfarreien haben als organisatorische Ebene immer noch ein grosses Gewicht. Das ist besonders wichtig, wenn es um Schulkinder und ihre religiöse Erziehung geht. Alles, was mit Kindern zu tun hat, muss auf Gemeindeebene stattfinden.

Andererseits haben sich die katholischen Bewegungen weiter entwickelt. Diese sind aber anders als die klassischen Vereine weniger in den Pfarreien verankert und darum im Gemeindeleben schwer fassbar.

Die Pfarreien haben zudem damit begonnen, sich vermehrt auf sich selbst zu besinnen. Es entwickelt sich eine Art Kongregationalismus. In der katholischen Lehre aber ist nicht die Gemeinde Kirche, sondern das Bistum. Von dieser Entwicklung rührt der Vorwurf her, die katholische Kirche protestantisiere sich. Denn in der reformierten Kirche steht die Kirchgemeinde im Zentrum.

Warum diese Entwicklung?
Auch in der Kirche besteht ein Trend zu Dienstleistungserwartungen. Die Pfarreien sollen den Service für Taufen, Erstkommunion, Beerdigungen und Hochzeiten sicherstellen und zwar flächendeckend. Das bedingt viel Personal, und schnell taucht darum der Ruf auf, es gebe in der katholischen Kirche zu wenig Personal. Es muss genau definiert werden, was dringlich gemacht werden muss. Viele vollamtlich Angestellte erledigen heute Aufgaben, die früher von freiwilligen Hilfskräften erledigt wurden. Diese waren früher etwa in der Erwachsenenbildung tätig. Heute haben Festangestellte diese Aufgabe übernommen.

Das ist ein Trend, der nicht nur die katholische Kirche trifft. In den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen haben die Vereine Mühe, Mitglieder zu finden - mit Ausnahme vielleicht von solchen, die im Sportbereich tätig sind. Ich beobachte eine Professionalisierung. Und das beinhaltet auch eine Einseitigkeit in Richtung Dienstleistung. Die Partizipation leidet.

Einen partizipatorischen Ansatz unternimmt die so genannte Tagsatzung.
Ja, es gibt Initiativen wie beispielsweise die Tagsatzung. Dem Pastoraltheologen Leo Karrer liegt es daran, mit seiner Initiative mehr Partizipation zu erreichen. Möglicherweise wollen die Leute heute das aber nicht mehr. Die Schwierigkeit der Tagsatzung besteht darin, dass sie keine Dienstleistung ist.

Leo Karrer ist als Professor in den Ruhestand getreten. Wird die Dynamik der Tagsatzung an Schwung verlieren?
 Ich befürchte, dass das Interesse, sich am kirchlichen Leben zu beteiligen, noch mehr abnimmt. Da spielt auch der Individualismus hinein.

Ich will aber noch auf eine andere Ebene hinweisen. In der Kirche wurde schon immer darüber gestritten: Wer ist berechtigt, den christlichen Glauben zu deuten? Klassischerweise ist es das Lehramt, welches die Deutungshoheit innehat. Schon immer gab es aber auch unterschiedliche Deutungsmuster, die von verschiedenen Seiten geliefert wurden. Auch die Piusbruderschaft steuert das ihre dazu bei und erklärt zudem, sie vertrete mit ihrer auf der Tradition aufbauenden Sicht die einzig richtige Position.

Andere sind der Auffassung, dass die heutigen Deutungen des Glaubens der kulturellen Entwicklung Rechnung tragen müssen. Sie verlangen, dass der Glaube kompatibel mit der Moderne, mit der Aufklärung sein muss. Am Glauben selber sollen keine Abstriche gemacht werden, aber an der Deutung. Die Piusbruderschaft ist dagegen fundamentalistisch in ihrer Ausdeutung.

Es scheint, dass die aktuelle Kirchenleitung in Rom in gewissem Sinne auf die Linie der Bruderschaft Pius X. einschwenkt. Was sind die Folgen auf Gemeindeebene?
Es führt zu einer Verunsicherung in den Pfarreien. Viele Katholiken verstehen nicht, was in Rom vor sich geht und besinnen sich darum stärker auf sich selber. Das fördert natürlich den schon genannten Kongregationalismus.

Vertritt die Piusbruderschaft eine Position, die latent bei den Gläubigen vorhanden ist? Eine Position, die sich stark an den überlieferten, alten Werten orientiert?
Die Piusbruderschaft hat ein Unbehagen aufgegriffen. Das grosse Interesse der Kirchenleitung für diese Priesterbruderschaft gründet aber darin, dass sie Priester weiht. Solange sich die Tagsatzung auf Kritik an den kirchlichen Strukturen beschränkt und keine verbotenen Handlungen unternimmt, kommt es nicht zu einer Spaltung, sondern führt höchstens zu einer Zurechtweisung durch einen Bischof. Sobald aber Parallelstrukturen, wie etwa über die Weihe von Priestern, aufgebaut werden, wird es heikel.

Rom will heute, koste was es wolle, die mit den Traditionalisten bestehende Spaltung überwinden. Rom ist zur Zeit Gruppierungen gegenüber, die extrem konservativ sind, nachsichtiger als gegenüber solchen, die dem liberalen Flügel zugerechnet werden.

Gegen die Befreiungstheologen ist Rom sehr ungnädig vorgegangen. Das konnte sich die Kirchenleitung leisten, weil es sich um eine theologische Bewegung innerhalb der Kirche handelt und nicht um eine separatistische befreiungstheologische Kirche, der ein Bischof vorsteht, welcher eine unnachgiebige Haltung einnimmt.

Papst Benedikt XVI. hat das "Jahr der Priester" ausgerufen. Was ist der geeignete Boden, um in der Kirche den Priesternachwuchs zu fördern?
Es gab eine Zeit, in welcher der Entscheid, Priester zu werden, die Möglichkeit bot, einen sinnvollen und frommen Lebensentwurf zu verwirklichen. Damals war es aufgrund der gesellschaftlichen Umstände einfacher als heute, religiös ansprechbare junge Männer für eine solche Laufbahn zu gewinnen.

Die religiöse Ansprechbarkeit verläuft heute nicht mehr so linear wie früher. Die Biographien sind mit vielen Brüchen verbunden. Es ist darum schwierig, Leute für den Priesterberuf oder für die Mitarbeit als Laie in der Kirche zu gewinnen. Wichtig ist, dass die Berufenen durch die Gemeinden mitgetragen werden, und darum muss zu diesen Sorge getragen werden.

Um angehenden Priestern genug Halt aus den Gemeinden geben zu können, muss auch die Kirche in diesen gut verankert sein. Ist das der Fall?
Die Kirche muss an Profil gewinnen und zwar auch an ortskirchlichem Profil - nicht gegen Rom, aber in der Auseinandersetzung mit Rom. Viele Pfarreien verfügen zwar über ein lebendiges Ortsleben. Dieses hört aber an den Gemeindegrenzen auf. Das Bistum ist dann nicht mehr präsent. Für die Bischofskonferenz wird es dann schwierig, in dieser Umgebung gehört zu werden.

Die Aufgaben der Bischöfe sind heute schwieriger geworden. Die Interaktionen zwischen Kirche und Gesellschaft haben an Vielfalt gewonnen, wenn es etwa um politische Fragestellungen geht. Besonders heikel ist die Position der Bischöfe bei Sachfragen, bei denen man sicht mit guten Gründen für ein Für oder ein Wider aussprechen kann.

In einer derartigen Situation pointiert Stellung zu nehmen, bedingt sehr viel Fingerspitzengefühl. Bei schwierigen Fragestellungen ist es dann einfacher, auf die Arbeit der bischöflichen Kommissionen zu verweisen. Es stellt sich natürlich auch die Frage, ob es notwendig ist, zu allen politischen Themen Stellung zu beziehen.

Eine Lehrmeinung der Kommunikationsbranche lautet: Eine Botschaft, die an ein bestimmtes Gesicht gebunden ist, erreicht die Menschen besser. Der Bundesrat hat dieses Problem auf seine Art gelöst. Ein Mitglied der Regierung tritt jeweils vor die Medien und gibt dann die Meinung des Gesamtbundesrats wieder. Ist das ein praktikabler Weg auch für die Bischofskonferenz und damit für die katholische Kirche Schweiz, um mehr Medienpräsenz zu erreichen?
Ich kann nachvollziehen, dass ein Bischof in einer Diskussion, die national geführt wird, nicht vorprellen will. Möglicherweise muss die Bischofskonferenz für die heutige Zeit adäquatere Kommunikationsstrukturen schaffen, um schneller auf Ereignisse reagieren zu können.

Der Präsident der Schweizer Bischofskonferenz müsste nach dem Vorbild der Deutschen Bischofskonferenz ermächtigt werden, profiliert und mit der Rückendeckung der Bischofskonferenz Stellung nehmen zu können. Wünschenswert wäre auch, dass die verschiedenen Gruppierungen in der Kirche nicht nach dem Schema gut und böse, links und rechts denken und vor diesem Hintergrund die Bischöfe mit entsprechenden Anwürfen eindecken.

Die Kirche muss eine neue Sozialform finden. Der Weg dazu ist aber hindernisreich. Die Kirche muss beweglicher werden. Das gilt besonders für Europa. Die Kirche verfügt über starke Einrichtungen, die aber zu wenig dynamisch sind im Vergleich zu dem, was in der Dritten Welt vor sich geht. Das Kirchenvolk, die Laien müssen mehr in die kirchlichen Prozesse einbezogen werden.

Datum: 28.07.2009

Werbung
Livenet Service
Werbung