Der «genialste Bettler» Deutschlands

Friedrich von Bodelschwingh

Heute Vor 175 Jahren wurde Friedrich von Bodelschwingh geboren. Als die Fernsehzuschauer aufgerufen waren, die 100 besten Deutschen zu wählen, setzten sie Friedrich von Bodelschwingh auf den 73. Platz. Sein Name steht ebenso für soziales diakonisches Engagement wie für höchst effizientes Unternehmertum im Dienst für Arme, Kranke und Schwache.

Unter seiner Leitung wuchsen die nach ihm benannten von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel in Bielefeld zu einem der grössten diakonischen Unternehmen Europas. Vor 175 Jahren, am 6. März 1831, wurde der Verfechter der sozialen Fürsorge und tief fromme Christ im westfälischen Tecklenburg geboren.

Bis heute höchste Anerkennung

Er sei ein Wegbereiter einer «Moderne mit menschlichem Antlitz» gewesen, schreibt der Historiker Hans-Walter Schmuhl in einer neuen Bodelschwingh-Biografie. Der vor wenigen Wochen gestorbene ehemalige Bundespräsident Johannes Rau sah in ihm den Verfechter eines sozialen Rechtsstaates, der Menschen «die realen Voraussetzungen zu menschenwürdigem Leben schafft».

Charakter mit Ecken

In Bethel wirbt man heute aber auch für eine differenzierte Betrachtung des Namensgebers. Bereits zu Lebzeiten sei Bodelschwingh zu einer «Heiligengestalt» verklärt worden, schreibt der Historiker Schmuhl in der von Bethel geförderten Biografie. Zu den Ecken und Kanten seines Charakters gehörten auch «die geistige Enge seines Glaubens, ein Sendungsbewusstsein, das es ihm schwer machte, andere Meinungen gelten zu lassen» sowie «sein mild patriarchalischer, dennoch autoritärer Führungsstil».

Bodelschwingh war nicht der Gründer der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel. Doch «ohne seine Ideen, sein Engagement und seine starke Frömmigkeit wäre Bethel nicht zu dem geworden, was es bis heute ist», betont Bethel-Chef Friedrich Schophaus. In den 38 Jahren seiner Leitung baute Bodelschwingh die kleine Pflegeeinrichtung für Epilepsiekranke zu einer Siedlung aus und erschloss obendrein immer neue Arbeitsfelder.

Ein Ort für epilepsiekranke Menschen

In Bethel erhielten schon bald nicht nur epilepsiekranke Menschen Hilfe, sondern auch die Opfer von sozialer Not und Massenarbeitslosigkeit. Als Bodelschwingh im Jahre 1872 an die Spitze der Einrichtung berufen wurde, wurden dort 150 epilepsiekranke Menschen betreut. Als er 1910 starb und sein Sohn Fritz die Leitung übernahm, zählte man rund 2.000 «Pfleglinge».

Von seiner Herkunft her war Bodelschwingh alles andere als ein Sozialrevolutionär. Der Sohn eines preussischen Ministers und Jugendfreund von Kaiser Friedrich III. war ein christlicher Monarchist, der sein Leben lang ein grosser Bewunderer des Hauses Hohenzollern blieb. Wenn es gelänge, die Lebensumstände der Fabrikarbeiter zu verbessern, «dann ist die Sozialdemokratie tot, und der Thron der Hohenzollern ist auf Jahrhunderte gesichert», bekannte er etwa 1885.

Der kurz aufeinander folgende Tod vier seiner Kinder im Jahr 1869 wurde für ihn zum Schlüsselerlebnis. Da habe er bemerkt, «wie hart Gott gegen Menschen sein kann, und darüber bin ich barmherzig geworden gegen andere», notierte Bodelschwingh, der von der Frömmigkeit der christlichen Erweckungsbewegung stark geprägt war.

Äusserst effektiver Spendensammler

Als Bodelschwingh die Leitung in Bethel übernahm, hatte er bereits reichlich Erfahrung mit Armut und Elend gesammelt. Nach seinem Theologiestudium war er für die «Evangelische Mission unter den Deutschen in Paris» als «Gassenkehrerpastor» in den Armenvierteln tätig gewesen. Als seine Frau Ida nach der Geburt des ersten Kindes krank wurde, zog die Familie Bodelschwingh zurück nach Deutschland, wo Friedrich zunächst eine Gemeindepfarrstelle im westfälischen Dellwig übernahm.

In seiner 38-jährigen Amtszeit in Bethel erwies sich Bodelschwingh auch als äusserst effektiver Spendensammler. Der frühere Bundespräsident Theodor Heuss nannte ihn deshalb einmal den «genialsten Bettler, den Deutschland wohl je gesehen hat».

Doch der rasante Ausbau der von Bodelschwinghschen Anstalten ist nur zum Teil mit dem äusserst erfolgreichen Spendensammeln zu erklären. «Das Geheimnis Bodelschwinghs war, dass er nicht wegschauen konnte», schreibt Biograf Schmuhl. Mit leidenden Menschen konfrontiert, habe er nicht anders können, als «sofort mit äusserster Entschlossenheit und Leidenschaft zu handeln».

Grösste diakonische Einrichtung in Europa

Die von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel wurden zwar nicht von Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910) gegründet, aber massgeblich von ihm geprägt. Bereits 1867 hatten Kaufleute und die Innere Mission in Bielefeld eine «Rheinisch-Westfälische Anstalt für Epileptische» ins Leben gerufen. Das Angebot richtete sich zuerst nur an junge Männer mit Epilepsie. 1872 wurde der westfälische Pastor Friedrich von Bodelschwingh zum Leiter der Anstalt und des Diakonissenhauses berufen. Er gab den Anstalten den biblischen Namen Bethel («Haus Gottes»).

Unter Bodelschwinghs 38-jähriger Leitung (1872-1910) erlebte die Anstalt einen rasanten Ausbau zum grössten Diakoniewerk des Deutschen Reiches. Aus der Pflegeeinrichtung mit 150 Plätzen entstand ein Verbund an Einrichtungen und Zweiganstalten, der im Jahr seines Todes 1910 rund 2.000 Pfleglinge betreute. Bodelschwingh führte die Pflegeanstalt und das Diakonissenhaus zusammen und öffnete die Pflegeeinrichtung auch für Frauen. Später kamen Kolonien für Wanderarbeiter sowie Fürsorge für «Geistes- und Gemütskranke», «Schwachsinnige», «Trinker», «Neurastheniker» und «Schwindsüchtige» sowie Jugendliche mit Problemen hinzu.

Heute ist Bethel - wie die Anstalten kurz genannt werden - die grösste diakonische Einrichtung in Europa. Die Vision Bethels ist nach eigenen Angaben das selbstverständliche Zusammenleben, das gemeinsame Lernen und Arbeiten aller Menschen in ihrer Verschiedenheit. Zu der ehemaligen Siedlung Bethel, die inzwischen ein Stadtteil Bielefelds ist, gehören die noch von Bodelschwingh errichtete Zionskirche sowie Second-Hand-Läden, Kfz-Werkstätten und integrative Kulturveranstaltungsorte.

An ihrem Hauptstandort Bielefeld und in Zweigeinrichtungen in sechs Bundesländern bietet Bethel rund 20000 Plätze für behinderte, kranke oder sozial schwache Menschen. Die Arbeitsfelder reichen von Epilepsie, Psychiatrie, Jugendhilfe, Behindertenhilfe, Wohnungslosenhilfe, Altenhilfe bis zu Akutkrankenhäusern. Ergänzt wird das Angebot durch Ausbildungsstätten und Fachschulen für Pflegeberufe. In den Einrichtungen sind insgesamt 14.000 Mitarbeiter beschäftigt. Die Gesamterträge Bethels liegen bei rund 700 Millionen Euro.

Datum: 06.03.2006
Quelle: Epd

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