„Der Mensch hat keinen Preis, sondern Würde“

Dr. Ruth Baumann-Hölzle
Embryo

Diese Woche berät die Nationalratskommission, wie die Embryonenforschung in der Schweiz geregelt werden soll. An der Eidgenössischen Besinnung vom 20. März 2003 in Bern hielt die Zürcher Medizinethikerin Dr. Ruth Baumann-Hölzle einen Vortrag über die Menschenwürde unter dem Druck der biomedizinischen Forschung. ( Livenet.ch und Jesus.ch berichteten über den Anlass.) Wir bringen hier eine redaktionell bearbeitete Fassung des Referats von Ruth Baumann-Hölzle.

Ich beginne mit einem Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, wir könnten in diesem Raum nur überleben, wenn wir bereit wären, eine Person unter uns zu opfern. Andernfalls müssten wir alle sterben. Was für Auswahlkriterien würden Sie wählen?

Mögliche Auswahlkriterien sind:
• Freiwillige vor
• Alter
• Soziale Wichtigkeit
• Los
• Demokratischer Entscheid
• Gesundheitszustand
• Alle sterben
• Survival of the fittest

Von diesen Kriterien anerkennen die einen, dass alle Menschen den gleichen Wert haben, unabhängig von irgendwelchen Eigenschaften, weder physischen, psychischen noch sozialen. Diese Wertebasis ist mit keinem bestimmten Menschenbild verbunden.

Dagegen bestimmen andere Kriterien (Alter, soziale Wichtigkeit, Gesundheitszustand, Überleben des Tüchtigsten) den Wert eines Menschen durch seine physischen, psychischen oder sozialen Eigenschaften. Im Rahmen dieses Denkens können ganz verschiedene Menschenbilder entworfen werden, die mit bestimmten Ansprüchen an das Menschsein verbunden sind. Dabei kann zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben unterschieden werden.

Die demokratische Verfassung basiert auf der erstgenannten Wertebasis, indem sie die Gleichheit aller Menschen unabhängig von ihren physischen, psychischen und sozialen Eigenschaften voraussetzt. Begründet wird dieser Gleichheitsanspruch aller Menschen mit dem Würdezuspruch: Der Mensch hat keinen Preis, sondern eine Würde.

Selbstbestimmung und Menschenwürde

Der Mensch hat keinen Preis, sondern eine Würde, weil er Anspruch auf Autonomie (Auto-nomos: Selbst-Gesetzgebung) hat. Er darf deshalb nicht instrumentalisiert, nicht als Mittel zum Zweck gemacht werden, sondern ist Zweck in sich selbst. Auf dieser nicht weiter begründbaren Wertvoraussetzung des Philosophen Immanuel Kant basieren die Menschenrechte und die demokratischen Verfassungen.

Der Anspruch der Menschen auf Würde ist ein Axiom, ein Grundsatz des Denkens, der nicht mehr weiter begründet werden kann. Er lässt sich nicht naturwissenschaftlich beweisen und entzieht sich inhaltlichen Kriterien: Man kann nicht beweisen, wann und wie lange menschliches Leben Träger der Würde und den daraus resultierenden Rechten ist.

Menschliches Leben hat keinen bestimmten Zweck – sondern einen Sinn!

In Konflikten müssen ethische Güter gegeneinander abgewogen werden. Der Ausgangspunkt der ethischen Güterabwägungen ist heute der Autonomie- und Würdeanspruch menschlichen Lebens und damit verbunden der Anspruch auf körperliche Integrität des menschlichen Lebens an sich. Menschlicher Wille und Leiblichkeit sind zusammen vorgegeben. Als wertsetzende Grössen begründen sie das Recht demokratischer Staaten. Anders gesagt: Menschliches Leben hat einen Sinn und keinen bestimmten Zweck!

Bisher menschliches Leben nur in Grenzfällen abgewogen

Bisher gab es keine Güterabwägung mit menschlichem Leben ausser in direkten Konflikten zur Abwehr und/oder zum Schutz von sich selbst oder anderen Menschen im Notfall! Die Verfügungsmacht über das eigene Leben ist beschränkt: Suizid (Selbsttötung) wird als persönliche Freiheit toleriert, ist als Recht jedoch nicht einforderbar.

So wir wir bisher in unserer Gesellschaft Selbstbestimmung und Würde des Menschen verstanden habe, wird die Zumutbarkeit von bestimmten medizinischen Massnahmen zur Lebenserhaltung in einer sogenannten „Güterabwägung“ bestimmt: Sind lebenserhaltende Massnahmen diesem Menschen noch zumutbar oder nicht?

Das Leben selbst als absolutes Gut ist nicht Gegenstand der Güterabwägung und wird nicht bewertet. Der Verfassungsartikel 119 basiert auf dieser Wertegrundlage: Menschliches Leben soll nicht für fremde Zwecke genutzt werden dürfen.

In-vitro-Fertilisation

Mit der In-vitro-Fertilisation (‚Befruchtung im Reagenzglas‘) wird heute das Anfallen und Absterbenlassen von wenigen so genannt ‚überzähligen‘ Embryonen in Kauf genommen. Denn dabei kommt es nicht zur Fremdnutzung und damit zur Sinnentfremdung von menschlichem Leben, sondern diese Embryonen werden nur im Hinblick auf eine Menschwerdung und nicht auf eine Instrumentalisierung hin gezeugt. Um die Gefahr einer Instrumentalisierung möglichst zu vermeiden, dürfen nur imprägnierte Eizellen aufbewahrt werden.

Menschenwürde wird verhandelbar

Nun erleben wir aber einen Paradigmenwechsel, einen grundlegenden Wandel im Umgang mit diesen Fragen. In einer ersten Phase wird die Verfügungsmacht des Menschen über das eigene Leben erweitert, in einer zweiten die Verfügungsmacht über fremdes Leben. Die Umwertung der Werte lässt sich am Beispiel der verbrauchenden Embryonenforschung zeigen.

Der Paradigmenwechsel besteht darin, dass menschliches Leben seinen moralischen Status als wertsetzende Vorgegebenheit (wie oben erläutert) verliert und selbst Gegenstand der ethischen Güterabwägung wird. So aber kann menschliches Leben unter bestimmten Bedingungen instrumentalisiert werden. Menschenwürde wird verhandelbar.

In der ersten Phase geschieht die Ausdehnung der Verfügungsmacht über das eigene Leben so, dass Wille und Leiblichkeit des Menschen getrennt werden. Weiter wird die Würde von der Lebensqualität abhängig gemacht. Drittens kommt es zu einer Einteilung in lebenswertes und nicht lebenswertes Leben: Suizidbeilhilfe und aktive Sterbehilfe auf Wunsch werden zum Recht, das man einfordern kann.

In der zweiten Phase wird die Verfügungsmacht über fremdes menschliches Leben ausgedehnt. Aktive Sterbehilfe ohne Einwilligung wird möglich – die Niederlande sind die Vorreiter auf diesem Weg. Zweitens wird die Fremdnutzung von menschlichem Leben erlaubt – in der Embryonenforschung, die Embryonen verbraucht, tötet, wenn sie ihnen die als kostbar erachteten Stammzellen entnimmt.

Wenn Embryonen verbraucht werden dürfen...

Ist ein Embryo in den ersten Tagen und Wochen seiner Existenz eine Sache? Eine Person? Eine potentielle Person? Und: Wer entscheidet diese Fragen? Wer definiert?

Der Entscheid des Ständerates, die Gewinnung embryonaler Stammzellen aus so genannt „überzähligen“ Embryonen zuzulassen, ist ein Kompromiss zwischen einem grundsätzlichen Nein zur verbrauchenden Embryonenforschung und ihrer Zulassung für Forschungsinteressen.

Faktisch wird mit dem Kompromiss der Schritt zur Instrumentalisierung fremden menschlichen Lebens vollzogen, denn bei der embryonalen Stammzellgewinnung wird der Embryo zerstört. Eine neue Dimension menschlicher Handlungsmacht ist dadurch eröffnet.

...geschieht eine Umwertung der Werte

Nochmals: Bisher gingen wir in unserer Gesellschaft davon aus, dass menschliches Leben einen absoluten Wert und eine Würde hat und deshalb nicht instrumentalisiert werden darf. Dadurch war klar: Menschliches Leben darf nicht ohne dessen Einwilligung für Forschungszwecke genutzt werden, und eine Organentnahme darf nicht den Tod des Menschen verursachen.

Nach dem neuen Paradigma aber hat menschliches Leben nur einen bestimmten Wert und ist verhandelbar. Es kann unter bestimmten Bedingungen instrumentalisiert werden. Konkret: Menschliches Leben darf neu für Forschungszwecke fremd genutzt werden. Es wird in Kauf genommen, dass durch die Stammzellentnahme der Embryo zerstört wird.

Wie bewerten wir das Leben?

Damit stellen sich drängende Fragen: Auf welcher allgemein verbindlichen Grundlage sollen in Zukunft ethische Entscheide getroffen werden? Wie können in Zukunft überhaupt noch verbindliche Handlungsgrenzen gezogen werden? Wie kann in Zukunft „Verantwortung“ definiert werden? Mit welchen Argumenten sollen z.B. das Züchten und Klonen von Embryonen zu Forschungszwecken oder Eingriffe ins menschliche Erbgut verboten bleiben? Eine neue Dimension menschlicher Handlungsmacht ist eröffnet!

Nach der Natur soll nun der Mensch gestaltbares Material werden

Ich möchte die ethische Diskussion in den Zusammenhang unserer kulturellen Entwicklung in der Neuzeit stellen. Die den Menschen umgebende Natur hatte im Zuge des Autonomiedenkens ihren Status als bestimmende Vorgegebenheit verloren, wurde zur Gegebenheit und schliesslich zum gestaltbaren Material. Dieselbe Entwicklung durchläuft nun die humane Natur, das menschliche Leben.

Moderne Illusion

Im Anschluss an das Denken Kants ist es zu einer folgenschweren Gleichsetzung gekommen: Der Autonomieanspruch wird mit den Autonomiefähigkeiten des Menschen gleichgesetzt und die existentiellen Abhängigkeiten der Menschen werden ausgeblendet. Der Mensch verfällt der Illusion, von der ihn umgebenden Welt völlig unabhängig leben und diese gestalten zu können.

Autonomie als Wille zur Macht

Bereits mit Immanuel Fichte (1796-1879) im Deutschen Idealismus beginnt sich die durch Kant eingeleitete neue Verhältnisbestimmung des Menschen zu seiner Umwelt in ein Machtverhältnis zu wandeln. Fichte brachte in der Abhandlung „Über die Würde des Menschen“ zum Ausdruck, dass der Mensch solange handeln soll, bis er der Welt sein Gepräge gegeben hat.

Im Rahmen dieser einseitigen Fixierung auf seine Fähigkeiten zur unabhängigen Lebensgestaltung blendet der Mensch seine Verantwortung gegenüber seinen existentiellen Abhängigkeiten aus: Gegenüber seinen Mitmenschen, den Mitgeschöpfen und der Mitnatur allgemein. Dadurch gerät die Welt aus dem Gleichgewicht. Der Mensch ist nur frei, wenn er gegenüber seinen existentiellen Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten Verantwortung übernimmt.

Autonomie als Verantwortung verstehen!

Wir haben der geschilderten Entwicklung mit einer Vision von Autonomie als Verantwortung zu begegnen. Zu dieser Vision gehört, dass wir vier Dinge anerkennen: Wir Menschen haben begrenzte Autonomiefähigkeiten. Und eine begrenzte Lebensspanne. Drittens gehört Lebenskunst dazu – und viertens die Grundhaltung, dass menschliches Leben an sich sinnvoll ist.

Verantwortung birgt das Wort ‚Antwort‘ in sich: Der Mensch „antwortet“ mit seiner Art zu leben der Gabe des Lebens als wertsetzender Vorgegebenheit. Im Schützen von Menschen und auch im Umweltschutz zielt er auf ein nachhaltiges, nicht „verbrauchendes“ Verhalten ab. Und er verzichtet auf Handlungen, für deren Konsequenzen keine Verantwortung übernommen werden kann – denken wir an das Recht zukünftiger Generationen auf Willens- und Handlungsfreiheit.

Autonomie als Verantwortung ist Freiheit: Unabhängigkeit und existentielle Abhängigkeiten sind in einem Gleichgewicht. Autonomie als Wille zur Macht ist verantwortungslose Willkür, denn zusätzliche, nicht existentielle Abhängigkeiten entstehen. Ohne Verantwortung gibt es keine Freiheit!

Illusionen den Abschied geben

Gerade wenn die Forschung uns für die Zukunft Grosses verheisst, müssen wir von der Illusion, Wille und Leiblichkeit könnten getrennt werden, Abschied nehmen. Den leiblosen Willen gibt es nicht. Wille und Leiblichkeit sind voneinander abhängig.

Dazu kommt noch die Tatsache, dass Handlungen mit guten Absichten „schlechte“ Konsequenzen haben können und umgekehrt. Das ist die Ambivalenz der menschlichen Handlungsmacht. Sie erzwingt den Abschied von der Illusion unbegrenzter Handlungsmacht. Und führt zu einer ersten Regel: Wir dürfen keine irreversiblen Handlungen planen, die andere Menschen betreffen können!

Der menschliche Wille ist in einen sterblichen Leib inkarniert, an ihn gebunden. Darum ist auch der Illusion der Unsterblichkeit der Abschied zu geben. Zweite Regel: Mit der Abschiedlichkeit, der Vergänglichkeit und der Sterblichkeit des menschlichen Lebens ist zu rechnen!

Lebenskunst gegen Willkür

Die Lebenskunst besteht nun darin, die Ambivalenz der menschlichen Handlungsmacht wie auch die Sterblichkeit menschlichen Lebens einzubeziehen, wenn wir abwägen, was Menschen dürfen, wie sie ihre Handlungsmacht nutzen sollen. Andernfalls entstehen unverantwortliche Machtpotentiale menschlicher Willkür, die die Freiheit der Menschen existentiell gefährden.

Ich frage Sie: Wann erfahren wir unser Leben als sinnvoll? Dann, wenn wir unsere Zwecke, unsere Funktionen erfüllen – oder wenn wir in gelungenen Beziehungen leben? Der moralische Status menschlichen Lebens lässt sich nicht beweisen, aber vielleicht doch erfahren!

Wir brauchen eine Revolution des Herzens!

Ohne erfüllte Beziehungen kann ein Leben nicht glücken. Wir sollten uns besinnen auf ein Leben und auf ein Zusammenleben, in dessen Zentrum Beziehungen stehen: Beziehungen zu anderen Menschen, zu Tieren, zur Umwelt.

Beziehungen bedürfen der Pflege, sie brauchen Raum und Zeit. Beziehungen machen uns verantwortlich gegenüber Freiheit, Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit. Diese Werte aber ereignen sich nur, wenn sie die Menschen wollen. Wir brauchen eine Revolution des Herzens!

Die Theologin und Medizinethikerin Ruth Baumann-Hölzle leitet in Zürich das Institut ‚Dialog Ethik‘.

Datum: 08.04.2003

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