"Die Würde geht nicht verloren, wenn Körper oder Geist zerfallen"

Pflege

"Jeder Mensch hat die selbe, unverlierbare Würde, egal ob er ein Demenz-Patient ist oder ein Genie", sagt der reformierte Theologe Heinz Rüegger. Heute mache sich jedoch ein "defizitäres und degeneriertes" Würdeverständnis breit, das Würde mit hoher Lebensqualität, Leistungsfähigkeit und Unabhängigkeit gleichsetze.

Diese Entwicklung könne fatale Folgen haben für die Kranken, Pflegebedürftigen und Sterbenden, warnt Rüegger in seinem Buch "Sterben in Würde?". Am Stammtisch, in der Medizin und in der Politik habe sich in den letzten Jahren schleichend ein undifferenziertes Verständnis von Würde eingebürgert, kritisiert der Theologe. Das zeige sich am deutlichsten in der Debatte über die Sterbehilfe. Würde werde heute zunehmend als empirische Qualität begriffen. "Nach diesem Verständnis kommt Würde einem Menschen dadurch zu, dass er gesund, körperlich und intellektuell leistungsfähig und unabhängig ist und sein Leben autonom gestalten kann", erklärt Heinz Rüegger.

Dementsprechend könne eine unheilbare Krankheit und ein schweres Leiden die menschliche Würde beeinträchtigen, was häufig als Argument für die Sterbehilfe gebraucht werde. "Der selbst bestimmte Tod erscheint in diesem Zusammenhang als Ausweg, um einen drohenden Würdeverlust zu verhindern." Dieses Mode gewordene empirische Verständnis von Würde verkenne jedoch den zentralen Gehalt der Menschenwürde, sagt Rüegger: Jeder Mensch besitze dieselbe, unverlierbare Würde, die weder durch einen fortschreitenden Zerfall der Persönlichkeit noch eine zunehmende körperliche Gebrechlichkeit beeinträchtigt werden könne.

Der Druck auf die Schwachen wächst

Wenn das empirische Würdeverständnis und mit ihm die Vorstellung vom autonomen, selbst verantworteten Sterben in unserer Gesellschaft zur Norm würden, könne das fatale Folgen für die schwächsten Glieder unserer Gesellschaft haben, warnt Rüegger. "Wird Würde über die Lebensqualität definiert, so wird damit nämlich - zumindest implizit - das Leben von Menschen, die dement sind, an Schmerzen leiden und täglich von der Hilfe anderer abhängig sind, als würdelos klassifiziert."

Kranke, Pflegebedürftige und Sterbende bekämen die abwertenden und inhumanen Folgen eines solchen Mentalitätswandels gleich mehrfach zu spüren, betont Heinz Rüegger. "Den Betroffenen wird suggeriert, dass ihr Leben unwürdig sei. Gleichzeitig wird ihnen nahegelegt, ihre Rest-Würde zu retten und noch einmal Würde zu beweisen, indem sie selbstbestimmt aus dem Leben scheiden." Das sei eine enorme Belastung für die Betroffenen.

Umgang in der Pflege

Das Würdeverständnis habe auch einen enormen Einfluss auf den Umgang von Angehörigen und Pflegenden mit Kranken und Sterbenden. "Wenn sie überzeugt sind, dass einem Menschen bis zuletzt Würde zukommt, dann werden sie ihm respektvoll begegnen können, auch wenn seine äussere Erscheinung und sein Benehmen vielleicht Ekel erregend und unansehnlich geworden sind", ist Heinz Rüegger überzeugt. Umgekehrt könne der Umgang mit einem Patienten respektloser, aggressiver und unmenschlicher werden, wenn man ihm seine Würde ganz oder teilweise abspreche. Auf politischer Ebene könne dieses Würdeverständnis schliesslich dazu führen, dass zum Beispiel weniger Gelder für die Langzeitpflege eingesetzt würden.

Schon heute seien die Folgen dieses Mentalitätswandels spürbar, meint Heinz Rüegger. "Man liest von Gewalt gegen Alte im Altersheim, in der Zentralschweiz brachte vor einigen Jahren ein Pfleger mehrere betagte und schwer kranke Menschen in Pflegeheimen gegen deren Willen um, aus Mitleid und Mitgefühl, wie er sagte. Und laut einer letztes Jahr präsentierten internationalen Studie über sechs europäische Länder gibt es eine solche Praxis auch unter Ärzten in der Schweiz. Das sind für mich Anzeichen dafür, dass Würde heute anders verstanden wird", so Heinz Rüegger.

Keine Polemik gegen die Sterbehilfe

Seine Forderung, den Begriff der Menschenwürde überlegt zu gebrauchen und nicht auszuhöhlen, dürfe aber nicht als Polemik gegen die Sterbehilfe missverstanden werden, betont Heinz Rüegger. "Ich habe Verständnis dafür, dass ein Mensch seinem Leben ein Ende setzen will, weil seine Schmerzen für ihn unerträglich geworden sind."

Er finde es auch legitim, wenn ein Mensch in einer solchen Situation die Hilfe einer Sterbehilfe-Organisation in Anspruch nehme. "Aber ich finde es gefährlich, wenn in der Debatte über die Sterbehilfe die Menschenwürde als etwas dargestellt wird, das man durch Krankheit und Leiden verlieren kann."

Sein Buch sei deshalb ein "Alarmruf" und eine Aufforderung, sich auf das Wesen und die Bedeutung der Würde zu besinnen. "Unsere Gesellschaft wird immer älter, immer mehr Menschen werden in naher Zukunft in Alters- und Pflegeheimen leben."

Gleichzeitig spiele im Gesundheitswesen der Kostendruck eine immer grössere Rolle und werfe die Frage auf, wer Anrecht auf teure Behandlungen habe. "In dieser Situation können wir es uns schlicht nicht leisten, mit einem fragwürdigen Würdeverständnis zu arbeiten, das die Gefahr birgt, gewissen Menschen die Würde und damit das Lebensrecht abzusprechen", sagt Heinz Rüegger.
Heinz Rüegger, Sterben in Würde? Nachdenken über ein differenziertes Würdeverständnis, Theologischer Verlag Zürich 2003, 92 Seiten, 22 Franken.

Der reformierte Theologe Heinz Rüegger (50) leitet die Stabsstelle Theologie der Stiftung Diakoniewerk Neumünster - Schweizerische Pflegerinnenschule im zürcherischen Zollikerberg. Die Stiftung betreibt ein Spital und eine Berufsschule für Pflege, ausserdem eine Altersresidenz, ein Pflegeheim und ein Alterszentrum mit drei Altersheimen.

Autor: Stephan Moser

Datum: 23.02.2004
Quelle: Kipa

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