Geschöpf sein

Für eine inklusive Gesellschaft arbeiten

Mit welchem Menschenbild gestalten wir unser Zusammenleben in der Gesellschaft? Der christliche Psychotherapeut Roland Mahler weist auf ihre Bruchstellen hin.
«Jeder Mensch ein Sinnträger»: Roland Mahler.
Die Höhere Fachschule für Sozialpädagogik icp baut auf das christliche Menschenbild: Studierende in Wisen bei Olten.

Nach dem christlichen Menschenbild ist der Mensch Geschöpf Gottes. Er hat seinen Platz in der Schöpfungsordnung. Dann ist seine Entwicklung ganz anders zu denken, als wenn ich den Menschen auf Individualität und Sozialität (sein Sein allein und mit anderen Menschen) reduziere. Geschöpflichkeit heisst: Der Mensch hat einen Ursprung, aus dem Sinn erwächst, auch für seine Besonderheit, bis hin zur Berufung. Jeder ist durch seine Geschöpflichkeit einzigartig. Er ist nicht nur etwas, das biologisch funktioniert, sondern ein Sinnträger. Jedes Individuum hat als Geschöpf seinen Beitrag zum Sinn des Ganzen zu leisten.

Gott: vollkommenes Zueinander

Das Soziale – dass der Einzelne immer Mitmensch ist, nur in Beziehungen wahrhaft lebt – findet seine Begründung in der Trinität Gottes, dem vollkommenen Zueinander von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist. Individualität und Sozialität (Gemeinschaftsbewusstsein und Verantwortung) des Menschen sind zu verstehen auf dem Hintergrund seiner Geschöpflichkeit.

Der Mensch – nicht nur User

Der Gedanke, dass wir Geschöpfe sind, bietet sich auch der Wissenschaft zur Diskussion an: Wie kann das Personale, die Einzigartigkeit des Individuums, gewahrt und mit dem Sozialen, den Ansprüchen der Gemeinschaft, in Einklang gebracht werden? Freiheit einerseits – Liebe und dienen, Leben mit und für den Nächsten anderseits: Für diese Spannung gibt die christliche Psychologie mit dem biblischen Menschenbild Wegweisung, indem sie die Verantwortung für Mitmenschen und die gesamte Schöpfung festhält. Der Mensch ist nicht nur Benutzer dieser Welt, sondern hat ihre Gestaltung vor dem Schöpfer zu verantworten.

Christliche Sozialpädagogik und christliche Sozialarbeit bringen dies in gesellschaftliche Brennpunkte ein. Sie sind dort Vorreiter, wo der Staat noch zögert (etwa Entzugs- und Therapiestationen für Fixer in den 1970er-Jahren). Christen wagten sich dorthin, wo die Not am grössten war.

Kulturübergreifende Gemeinschaft

Heute sind – dies meine Überzeugung – Christen gefordert, multikulturelle Gemeinschaft aufzubauen und multireligiöse Beziehungen zu pflegen. Der Staat wird die Probleme, die mit der Zuwanderung entstehen, nicht allein lösen können. Die einzigen, die über Kompetenz und die nötige Toleranz verfügen, sind die Christen. Das Gespräch mit Andersgläubigen ist proaktiv zu suchen. Wir dürfen nicht warten, bis wir eingeladen werden. Der Staat ist ziemlich hilflos in diesen Fragen, weil er sich in religiösen Fragen keine Kompetenzen gibt. Hingegen verstehen Christen etwas davon. Wir sollten als Vorreiter zur Gestaltung der multireligiösen Gesellschaft beitragen, Ideen dazu entwickeln, wie Christen und Muslime miteinander existieren können – dass wir nicht in den Schützengräben enden und einander bekämpfen.

Überfordert

Die heutige Gesellschaft fordert Leistung und hat härtere Kriterien für ihre Erbringung. Trotz aller Liberalität der Gesellschaft empfinden sich mehr Menschen heute als randständig, weil sie es nicht schaffen oder meinen, es nicht zu schaffen, weil sie sich den Kriterien verweigern oder an ihnen scheitern.

Die Gesellschaft inklusiver machen

Die soziale Arbeit ist darauf aus, diese Menschen und randständige Gruppen in die Gesellschaft zurückzuholen und die Gesellschaft inklusiver zu machen, sie zu befähigen, diesen Menschen einen Platz zu geben. Christen tun dies auf dem Hintergrund des biblischen Menschenbildes, dass wir alle, im Bild Gottes geschaffen, gleiche Würde haben. Wir sind in unserer Geschöpflichkeit alle gleichwertig und zur Teilhabe am Ganzen berufen. Wer den Menschen auf seine Leistungsfähigkeit in irgendeinem Bereich reduziert, wird ihm als Geschöpf nicht gerecht. Es braucht in der Gesellschaft Verständnis, es braucht Räume, in denen Menschen mit anderer Geschwindigkeit unterwegs sein können.

Menschen als Geschöpfe sehen, bedeutet, sie in ihrer Einzigartigkeit und Endlichkeit zu erkennen. Darin liegt ihre personale Würde und ihre Chance jenseits aller Idealisierung. Christliche soziale Arbeit versucht auf dieser Grundlage Lebensmöglichkeiten für Schwache und Marginalisierte in einer zunehmend exklusiven Gesellschaft zu erschliessen.

Der Theologe und Psychotherapeut Dr. Roland Mahler leitet das Institut für christliche Psychologie, Therapie und Pädagogik icptp. 

Datum: 02.01.2013
Autor: Roland Mahler
Quelle: Livenet

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