"Das Attraktive am Kreationismus sind die einfachen Antworten"

Kreationismus
Sündenfall
Schöpfung

Schöpfung, Sündenfall, Sintflut: Für die fundamentalistischen Kreationisten ist die Bibel ein historischer Tatsachenbericht, Darwins Evolutionslehre hingegen eine haltlose Theorie. Auch in der Schweiz existiert seit rund einem Jahr eine kreationistische Vereinigung namens "ProGenesis". "Ihre Forderung, die biblische Schöpfungslehre in den Lehrplan der Schulen aufzunehmen, ist chancenlos", meint Martin Scheidegger, Leiter der ökumenischen Beratungsstelle "Religiöse Sondergruppen & Sekten" in Luzern.

Anmerkung: Bitte beachten Sie die Stellungahme zu diesem Artikel unter dem Titel: "Gibt es am Fundament der Nächstenliebe etwas auszusetzen?“

Stephan Moser: Seit rund einem Jahr existiert in der Schweiz der Verein "ProGenesis", dessen Ziel die "Ehrenrettung" der Schöpfungslehre ist. Was muss man sich unter Kreationismus, dem biblischen Schöpfungsglauben, vorstellen, den diese Gruppe vertritt?
Martin Scheidegger: Kreationismus ist eine Form von christlichem Fundamentalismus. Die Kreationisten argumentieren mit der absoluten Autorität der Bibel: Die Welt ist so entstanden, wie es Gott in der Bibel offenbart hat. Die Bibel als heiliges Buch zur absoluten Autorität zu erheben, die nicht hinterfragt werden kann, ist das zentrale Merkmal des christlichen Fundamentalismus: Was in der Bibel steht, ist wahr, und zwar Wort für Wort, und die Bibel ist nicht durch menschliches Zutun entstanden, sondern wurde von Gott "diktiert", ist göttliche Offenbarung. Die Bibel – ihr Inhalt, ihre Bedeutung und ihre Entstehung – ist die unumstössliche Grundlage des Weltbildes der christlichen Fundamentalisten, eben das Fundament, an dem es nichts zu rütteln gibt.

Bisher kannte man den Kreationismus vor allem aus den USA, in der Schweiz scheint er eher ein neues Phänomen zu sein?
Scheidegger: Dieser Eindruck täuscht. Schon in den siebziger Jahren gab es in der Schweiz eine kreationistische Welle, vor allem in freikirchlichen Kreisen. Danach flaute der Kreationismus zwar etwas ab und wurde in den neunziger Jahren von der Hochkonjunktur der Weltuntergangsstimmung in den Hintergrund gedrängt, blieb aber nie ganz bedeutungslos. Was wir heute mit der Gründung von "ProGenesis" in der Schweiz erleben, ist also lediglich eine neue kreationistische Welle, aber kein grundsätzlich neues Phänomen.

"ProGenesis" geht nun aber offenbar einen Schritt weiter als die Schweizer Kreationisten vor 30 Jahren. Der Verein will erreichen, dass die biblische Schöpfungslehre neben der Evolutionslehre an den Schweizer Schulen unterrichtet wird.
Scheidegger: Damit haben sie ein Anliegen aufgenommen, das in gewissen Staaten der USA schon seit langem diskutiert wird. Aber im Gegensatz zu Amerika, wo in einigen Staaten die biblische Schöpfungslehre tatsächlich auf den Stundenplan gesetzt wurde, hat dieses Ansinnen in der Schweiz meiner Ansicht nach keine Chance. Wir definieren das Verhältnis von Staat und Religion anders als in gewissen Staaten in den USA. In der Schule obligatorisch das christliche Schöpfungsmodell zu lehren, würde unserem Verständnis dieses Verhältnisses widersprechen.

Nach eigenen Angaben hat der Verein "ProGenesis" rund 300 Mitglieder. Was fasziniert die Menschen am Kreationismus?
Scheidegger: Der Mensch hat lieber pfannenfertige Antworten als Unsicherheiten. Der Kreationismus reagiert auf dieses menschliche Bedürfnis und verspricht eine einfache und umfassende Erklärung und Deutung der Welt. Das macht seine Attraktivität aus: Man muss lediglich an das glauben, was in der Bibel steht – und schon erscheint einem die komplizierte Welt "stimmig" und sinnvoll.

Den Kreationisten geht es letztlich nicht um eine akademische Auseinandersetzung über die Entstehung des Lebens: Hinter dem Lobbying für die biblische Schöpfungslehre steht der weiter reichende Versuch, der zunehmenden "Entchristlichung" der Gesellschaft etwas entgegen zu setzen.
Scheidegger: Das denke ich auch. Und an und für sich ist das auch ein ehrenwertes Anliegen. Meiner Ansicht nach leiden wir alle darunter, dass die Menschheit ihre religiösen Wurzeln und ihre Verbindung zur Transzendenz zunehmend verliert. Auch ich möchte dieser Entwicklung irgendwie Gegensteuer geben. Aber das Rezept des christlichen Fundamentalismus scheint mir zu einfach zu sein – und in gewissem Sinn auch gefährlich.

Was heisst das konkret?
Scheidegger: Die Ideologie des christlichen Fundamentalismus entmündigt den Menschen und nimmt ihn ein Stück weit aus seiner Verantwortung. Der Mensch ist eben so, wie er von Gott gemacht wurde; die Welt ist schlecht, weil der Mensch vom Bösen verführt wurde; Kriege und Katastrophen sind Teil des göttlichen Heilsplans – diese fundamentalistische Deutung delegiert die Verantwortung für das, was geschieht, vom Menschen an eine höhere Macht. Damit wird zwar ein einfaches Schema für die Erklärung der Weltgeschichte geliefert, aber Probleme werden nicht gelöst.

Wenn Sie jedoch den entscheidenden Punkt, nämlich den "Sündenfall", das "Sein-wollen-wie Gott", nicht fundamentalistisch deuten, ergibt sich daraus auch eine andere Verantwortlichkeit: Ich bin überzeugt, dass die "Überheblichkeit", der Erkenntnisdrang, unabdingbar zur Natur des Menschen gehört und dass es ohne diesen Drang überhaupt nicht geht. Die Polarität von gut und böse gehört wesentlich zur Schöpfung, deshalb müssen wir als verantwortungsvolle Individuen damit umgehen können.

Für Kreationisten lässt sich die Evolutionslehre nicht mit der Existenz Gottes vereinbaren. Wie sehen Sie das als Theologe?
Scheidegger: Das religiöse Fragen und Suchen des Menschen und sein wissenschaftliches Forschen sind zwei verschiedene Dinge: Die Wissenschaft fragt, wie etwas passiert ist, die Religion stellt die Sinnfrage. Wissenschaft und Religion schliessen sich deshalb meiner Ansicht nach nicht aus. Im Gegensatz zu den christlichen Fundamentalisten glaube ich nicht, dass die Bibel uns die "wissenschaftliche" Antwort gibt, wie die Welt entstand oder wie Gott ist.

Was wir in der Bibel finden, sind zeitgebundene Vorstellungen und Bilder über Gott und den Ursprung. Wir sind immer auf solche Bilder angewiesen, aber wirklich erfassen können wir Gott damit wohl nie. Er ist immer anders, als wir ihn uns ausmalen. Gerade die Schöpfungsgeschichte macht dies deutlich, finden wir doch in der Bibel zwei verschieden alte Versionen. Die ältere Version, die in einer nomadischen Kultur entstand, die noch kaum über wissenschaftliche Kenntnisse verfügte, ist relativ "primitiv": Gott formt den Menschen aus einem Lehmklumpen. Die jüngere Schöpfungsgeschichte hingegen, von einem Priester im städtischen Babylon geschrieben zu einer Zeit, als die Naturwissenschaften weit entwickelt waren, schildert und klassifiziert die Weltentstehung als "evolutionären" Prozess.

Der reformierte Pfarrer und Psychotherapeut Martin Scheidegger ist Leiter der ökumenischen Beratungsstelle "Religiöse Sondergruppen & Sekten" mit Sitz in Luzern.

Interview: Stephan Moser / Kipa

Datum: 26.11.2002
Quelle: Kipa

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