Aus der Kirche austreten – und doch in der Kirche bleiben

Freiburg. In jüngster Zeit tritt in der Schweiz immer häufiger ein scheinbar paradoxes Verhalten auf: Katholiken erklären ihrer Kirchgemeinde den Austritt - verbunden mit der festen Absicht, weiter in der (römisch-)katholischen Kirche zu bleiben. Auf diese Weise zahlen sie der Kirchgemeinde keine Steuer mehr, beanspruchen jedoch weiterhin kirchliche Leistungen wie Gottesdienste, Taufen und Vermählungszeremonien. Wenn diese Art, Kirchensteuern zu umgehen, sich allgemein verbreiten würde, so hätte dies für die bestehenden Kirchenstrukturen fatale Folgen.

Möglich wird die beschriebene Vorgehensweise durch eine historisch gewachsene helvetische Besonderheit. In der Schweiz schufen die meisten Kantone demokratisch organisierte, auf staatlichem Recht basierende Kirchgemeinden, die sie zwischen sich und die Kirche geschaltet haben.

Am Anfang stand ein Kirchenstreit

Erstmals auf die Probe gestellt wurde diese Verflechtung von staatskirchlichen und kirchlichen Strukturen, als vor zwölf Jahren Weihbischof Wolfgang Haas auf umstrittene Weise die Leitung des Bistums Chur übertragen wurde. Viele Kirchgemeinden begaben sich damals in Opposition zu "Chur". Einige der minoritären "churtreuen" Katholiken mochten daraufhin diesen Kurs nicht mit ihren Kirchensteuern mitbezahlen und erklärten der Kirchgemeinde formal ihren Kirchenaustritt.

Der Streit um die Bistumsleitung hat sich seit der Wegberufung von Bischof Haas vor über vier Jahren beruhigt, doch die "Kirchenaustritte ohne Abschied von der Kirche" gehen trotzdem weiter. So trat Ende April im schwyzerischen Steinen eine liberal gesinnte Gruppe von 71 Personen gemeinsam aus der Kirchgemeinde aus. Die Austretenden erklären, sie wollten weiterhin mit dem Bischof verbunden bleiben und ihm den geschuldeten Beitrag zukommen lassen. Keineswegs wollten sie aber den rigoros-konservativen Kurs des Ortspfarrers und der Mehrheit der Kirchgemeinde mit ihren Steuergeldern weiterhin mittragen.

Umstrittene Richtlinien

In Freiburg sah sich Bischof Bernard Genoud veranlasst, Richtlinien für den Umgang mit Ausgetretenen auszuarbeiten. Noch sind sie im Stadium des Entwurfs, doch bereits haben sie im Bistum Lausanne, Genf und Freiburg eine lebhafte Diskussion entfacht. Umstritten ist nicht der Umgang mit dem Gros der Austretenden, die der Kirche tatsächlich den Rücken zudrehen. Umstritten ist der Umgang mit jenen, die erklären, "nur" aus der Kirchgemeinde auszutreten. Denn laut bischöflichem Entwurf haben Ausgetretene grundsätzlich Anspruch auf die kirchlichen Sakramente, sofern sie sich nicht als "Abtrünnige oder Häretiker" von der Kirche abgewendet haben.

Bischof Genouds Richtlinien, die noch dieses Jahr in Kraft treten sollen, könnten eine grosse Sprengkraft entwickeln. So besteht in Kirchenkreisen die Befürchtung, dass die Richtlinien den Gläubigen einen Weg öffnen, auf dem sie sich "elegant" der Kirchensteuerpflicht entziehen könnten, ohne die kirchliche Gemeinschaft zu verlieren.

Gefährliche "Soft-Haltung des Bischofs"

"Mit der Soft-Haltung des Bischofs gehen wir sehr schwierigen Zeiten entgehen", meint etwa Paul Tschümperlin, Pfarreipräsident in Gurmels FR. Dass der Bischof zwischen einem Austritt aus der staatskirchenrechtlichen Körperschaft und dem Austritt aus der Kirche als Gemeinschaft der Getauften unterscheiden wolle, führe zu einer "Katastrophe".

Bei den Überlegungen von Bischof Genoud steht die Seelsorge und nicht das Recht im Vordergrund. Menschen werden laut kirchlicher Lehre durch die Taufe Glieder der von Jesus Christus gestifteten Kirche. Das "Prägemal des Taufsakramentes" ist unauslöschlich. So gesehen, kennt die Kirche keinen Austritt. Bischof Genoud hat deshalb mit seinen Richtlinien einen neuralgischen Punkt im Zusammenwirken von Kirche und Staat getroffen.

Expertenstreit

Was die rechtlichen Aspekte des Problems angeht, so streiten sich die Experten, inwieweit eine Unterscheidung von "staatlichem" und "kirchlichem" Kirchenaustritt zulässig ist. So betonte etwa der Luzerner Kirchenrechtler Adrian Loretan bei seiner Antrittsvorlesung 1997, gemäss Kirchenrecht könne ein staatlicher Kirchenaustritt als "Abfall von der katholischen Kirche durch formalen Akt" interpretiert werden. Wer vor den staatlichen Behörden seinen Kirchenaustritt erkläre und sich auf diese Weise der Besteuerung entziehe, verletze die gebotene Solidarität in grober Weise.

Gegenteiliger Meinung ist der Churer Kirchenjurist Martin Grichting. Das Kirchenrecht sehe keine allgemeine Steuerpflicht vor. Ausserdem seien die in der Schweiz erhobenen Steuern nicht einfach als Kirchensteuern zu taxieren, sondern als "staatliche Kirchgemeindesteuern". Das kanonische Recht verpflichte zwar den Gläubigen, "im Rahmen seiner Möglichkeiten die römisch-katholische Kirche in Weltkirche, Bistum und Pfarrei zu unterstützen. Diese Norm verpflichtet ihn jedoch nicht, einer Kirchgemeinde anzugehören und damit Kirchgemeindesteuern zu entrichten", schreibt Grichting in seiner 1997 veröffentlichten Dissertation.

Datum: 23.05.2002
Autor: Walter Müller
Quelle: Kipa

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