"Ich zittere wie Espenlaub um meine Religion": ätzende Kritik an den iranischen Mullahs

Teheran - Noch nie seit der islamischen Revolution von 1979 ist die iranische Geistlichkeit von einem ihrer prominenten Vertreter öffentlich so scharf kritisiert worden. Der greise Ayatollah Jalaluddin Taheri, der oberste Geistliche der Millionenstadt Isfahan, beschuldigte letzten Dienstag die Mullahs, sich auf dem Rücken des Volks hemmungslos zu bereichern und es zu entmündigen, und trat von seinem Amt als Freitagsprediger zurück. Die Kritik war so explosiv, dass der Nationale Sicherheitsrat der iranischen Presse die Berichterstattung untersagte.

Taheri klagte, er könne nicht mehr schweigen angesichts des unerträglichen Leidens von Menschen, "vor deren Augen die Blumen der Tugend zertrampelt werden, Werte zusammenfallen und die Spiritualität zerstört wird".

Laut der NZZ, die sich auf den Text des Demissionsschreibens Taheris in der Version der Unabhängigen Nachrichtenagentur der Studenten stützt, gibt der Kritiker den konservativen Geistlichen unter der Leitung von Staatspräsident Khamenei "eine wesentliche Mitschuld an den Missständen und der Abkehr vom Islam". Der Wächterrat der Mullahs sei nicht abwählbar, die religiösen Stiftungen nicht rechenschaftspflichtig, Zeitungen seien reihenweise durch die geistlichen Gerichte geschlossen worden, die Sicherheitskräfte unterdrückten Freidenker, Reformer und eigenständige Geistliche, und Schocktrupps der Hizbullah-Militanten schlügen Protestierende zusammen.

Für Taheri, einst von Ayatollah Khomeiny persönlich in sein Amt berufen, ist klar, dass die Mullahs "das Geld der Entrechteten für zwecklose politische Ausflüge verschleudern, für einen aufwendigen Lebensstil und selbstgefällige Propaganda". Schon lange könne man den Amerikanern und dem Schah nicht mehr die Schuld für die Probleme im Land geben. Der hohe muslimische Geistliche spricht von "unserer Unfähigkeit" und fährt fort: "Wenn ich an die alten Versprechen der islamischen Revolution denke, dann zittere ich wie Espenlaub um meine Religion."

Früher hätten die schiitischen Geistlichen dem Volk als schützender Hort gegen diktatorische Regime gedient. Nun aber habe sich zwischen der Masse und den Geistlichen, zwischen Arm und Reich, eine "teuflische Kluft" aufgetan. Die Herrscher liessen Drogenmissbrauch und Bestechung zu; sie stellten mutige Vordenker kalt; "dafür schützen sie angeblich religiöse, Knüppel schwingende Mafiabanden und autoritäre Faschisten voller Ignoranz und Wahnwitz, die sich selber als Richter, Philosophen, Herrscher und Gottesgelehrte betrachten". Die BBC sieht in der Anklage
Taheris einen Beleg für die zunehmende Besorgnis iranischer Geistlicher, dass die Kluft zwischen den Herrschern und dem Volk die Geistlichkeit insgesamt diskreditieren könnte.

Taheri erhielt Applaus von Reform-Politikern; Revolutionsführer Khamenei dagegen warnte in seinem Antwortschreiben vor äusserer Unterwanderung: Die USA wollten sich noch rächen und wieder eine "schwarze Diktatur" wie unter dem Schah etablieren. Taheri hatte seine Anklage ausgerechnet am dritten Jahrestag der grossen Studentenunruhen von Teheran ausgerichtet. Die Geistlichkeit hatte 1999 die Proteste blutig unterdrückt, was nach der NZZ im Iran zu "einer Art Grabesruhe" geführt hat.

Mitte Mai hatte der führende konservative Ayatollah Ebrahim Amini vor einer sozialen Explosion gewarnt. "Wenn die Unzufriedenheit in der Bevölkerung weiter zunimmt, sind die Gesellschaft und das Regime bedroht", sagte Amini. Zuvor hatte Präsident Khatami erklärt, die iranische Gesellschaft sei "an der Schwelle zur Unordnung". Die staatliche iranische Nachrichtenagentur zitierte Leute aus dem Umfeld des Präsidenten, wonach Khatami wiederholt seinen Rücktritt angedroht hat, weil islamistische Hardliner die Umsetzung seiner Reformpläne blockieren.

Quellen: NZZ, BBC

Datum: 16.07.2002

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