Die Vergessenen

Gottesdienst für Demenzkranke

35 Millionen Menschen auf der Welt sind dement. Einige von ihnen sind so schwer erkrankt, dass sie ihren Namen nicht mehr kennen, nicht selbstständig essen oder trinken können und die Erinnerung an engste Familienmitglieder und Freunde verlieren. Aber vergessen sie auch Gott?
Gottesdienst für Demenze
Ulrich Kratzsch

An diesem Donnerstag haben es Gottesdienstbesucher schwer, bis in die vorderen Reihen der Zwölf-Apostel-Kirche in Berlin-Schöneberg zu gelangen. Der Gang zwischen den Kirchenbänken ist vollgestellt mit Rollstühlen und Rollatoren. Die evangelische Luther-Kirchengemeinde hat zum Demenz-Gottesdienst eingeladen. Die Veranstaltung steht unter dem Motto «Weisst du, wie viele Sternlein stehen». Der Bezug zum Kinderlied soll jenen ein Stück Erinnerung zurückgeben, die ihr Leben nach und nach vergessen.

Über eine Million Menschen in Deutschland leiden an Demenz. 

Hunger nach Gott

Im Besprechungsraum von Ulrich Kratzsch ist die Krankheit allgegenwärtig. Neben der Stuttgarter Jubiläumsbibel stehen im Bücherregal Titel wie «Erinnerungen Raum geben», «Abschied zu Lebzeiten» oder «Visuelle Kommunikation für Menschen mit Demenz». Auf einem Sims liegen Anstecker mit der Aufschrift «Unsere Kommune ist demenzfreundlich». Kratzsch ist für die Organisation der Demenz-Gottesdienste zuständig. «Ich glaube, dass demenziell Erkrankte einen Hunger nach Gott haben», sagt er.

Tatsächlich gehen Fachleute davon aus, dass die Demenz zwar das Denken beeinträchtigt, keinesfalls aber die Fähigkeit, Emotionen zu erleben. «Die Menschen im Gottesdienst freuen sich, wenn ich sage, 'Jesus Christus ist auferstanden'», sagt Kratzsch. Ob die Kranken in der Kirche überhaupt etwas Geistliches wahrnähmen, könne freilich niemand mit Sicherheit sagen. «Aber das wissen Sie bei einem normalen Gottesdienst ja auch nicht.» Er lächelt und blickt über den Rand seiner Lesebrille. Deshalb verlasse er sich auf den Heiligen Geist und ein paar Regeln für Veranstaltungen mit Dementen.

Emotionen ansprechen

Anders als in normalen landeskirchlichen Gottesdiensten wiederholen sich bei Kratzsch bestimmte Lieder. Neues Liedgut ist tabu, er setzt ganz darauf, dass seine Gäste Erinnerungsfetzen aus ihrem früheren, gesunden Leben wiederentdecken. Alles, was das emotionale Erleben der Betroffenen fördert, hilft dabei, ist er überzeugt, auch Musik. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich bei einem Demenzgottesdienst einmal alle an den Händen halten oder dass ein Kinderchor auftritt. 

Viel Arbeit – wenig Gewinn

Über den Kirchenbänken hängen Schilder mit Aufschriften wie: «Ich glaube, dass du über mich wachst» oder «Ich glaube, dass Gott mir zuhört, wenn ich mit ihm rede».

Kratzsch spricht von einer «Isolationsspirale», wenn er das Schicksal vieler Dementer beschreibt. Mit zunehmender Schwere der Demenz können Angehörige die alltäglichen Herausforderungen, die mit dem Zusammenleben mit einem Kranken verbunden sind, nicht mehr handhaben. Unsichtbar sei dieser Teil der Gesellschaft deshalb geworden, auch für die christliche Gemeinde, sagt Kratzsch. «Kinder- und Jugendarbeit macht jeder gerne», sagt er. Doch wer sich um Demente kümmern möchte, muss viel leisten und hat wenig Gewinn.

Datum: 13.07.2013
Quelle: PRO Medienmagazin

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