«Evangelikale» Erziehung

Viel Polemik – wenig Aufklärung

«Es gibt 'christliche Konzepte', die den Grundwerten des Evangeliums widersprechen», schreibt André Tapernoux. Er übt aber Kritik an der Studie von infoSekta über «evangelikale Erziehung». Ein Beitrag zur laufenden Diskussion.
Erziehung in der Familie

Schaut man das Papier an, so wird hier nicht nur Aufklärung betrieben, sondern es wird viel polemisiert. Polemik sollte aber als solche gekennzeichnet sein, was infoSekta unterlässt. So werden persönliche Meinungen der im Übrigen anonymen Verfasserinnen und Verfasser immer wieder mit Fakten gemischt, so dass die Leserin und der Leser dies kaum unterscheiden können. Ich habe das Gefühl, dass hier ein «Evangelikalen-Bashing» betrieben wird.

Problematische Abgrenzung des Begriffs «Evangelikale»

Es beginnt schon beim Begriff «Evangelikale». Dieser Begriff ist unscharf, wie auch die Definition zeigt. Sie enthält im Wesentlichen die vier reformatorischen Grundsätze «solus Christus, sola scriptura, sola fide, sola gratia». Diese Basis teilen die «Evangelikalen» mit sehr vielen evangelischen und anderen Christen. Gänzlich absurd wird es dann, wenn geschrieben wird, dass bei Evangelikalen «Sexualität nur innerhalb der Ehe Platz hat» (S. 6). Gemeint ist wohl Geschlechtsverkehr, die Verwechslung kann als Freudscher Versprecher bezeichnet werden. Auf dieser unsauberen Definition beruht dann die ganze Polemik (ich gebe zu, hier bin ich auch polemisch).

Frauenfrage – hinken die «Evangelikalen» dem Zeitgeist hinterher?

Ich bin damit einverstanden, dass es eine Einheit der «Evangelikalen» so nicht gibt – es besteht eine Vielfalt von Kirchen, Gemeinschaften, Strömungen und Ansichten. Mit dem Beispiel der Rolle der Frau wird jedoch insinuiert, dass die «Evangelikalen» praktisch notwendigerweise dem Zeitgeist hinterher hinken. Nun ist aber gerade die Heilsarmee, die von den Verfasserinnen und Verfassern sicher zu den «Evangelikalen» gezählt wird, wahrscheinlich die erste religiöse Bewegung, welche die Gleichheit von Frau und Mann schon Mitte des 19. Jahrhunderts in ihren Satzungen festgelegt hat, lange bevor irgendein Staat in der Welt das Frauenstimmrecht eingeführt hat. Immer wieder waren also «evangelikale» und andere Christen Vorreiter, weil sie eben eine gewisse Unabhängigkeit zur übrigen Welt bewahrten (die Studie spricht hier von «Abgrenzung», die Wortwahl verrät wohl die Gesinnung).

Anwendung auf Erziehung

Die infoSekta-Studie gibt einen guten Abriss über die aktuelle Diskussion bei der Erziehung von Kindern. Diese Erkenntnisse sind sicher wichtig und sollen von allen ernsthaften Erziehungsratgebern berücksichtigt werden. Daraus jedoch zu folgern, dass sie zum Massstab jedes Handelns gemacht werden müssen, ist verfehlt. Dies soll an einem Beispiel verdeutlicht werden: Der in der Studie empfohlene Erziehungsratgeber von Dreikurs und Soltz vertritt wie viele andere das Prinzip der «logischen Konsequenzen» und erwähnt das Beispiel der dreijährigen Betty, welche nicht Zähne putzen will (Kapitel 6). Als «logische Konsequenz» muss sie nicht Zähne putzen, bekommt aber keine Süssigkeiten. Glücklicherweise passiert nichts, wie aber wäre es, wenn irreparable Zahnschäden entstanden wären? Kann die Dreijährige die Konsequenzen abschätzen? – Gordon Neufeld, ein prominenter kanadischer Entwicklungspsychologe (kein «Evangelikaler»), kritisiert darum dieses Konzept und weist auch auf die möglichen psychischen Folgen hin. Konsequenz: auch vom Kinderschutz empfohlene Bücher ersparen den Eltern nicht, selbst zu denken!

Anonyme Analyse

Es wird in der Studie (S. 19) zugegeben, dass jede Einordnung der Ratgeber zu einem gewissen Teil subjektiv ist. Gerade deshalb wäre es von Interesse, mehr über den fachlichen und persönlichen Hintergrund der beiden Personen zu erfahren, welche die Analyse vorgenommen haben. Die Studie lässt es dabei, sie als «Fachpersonen» auszuweisen, was wohl vor allem den Eindruck von Kompetenz und Unabhängigkeit vermitteln soll.

Die vier Typen von Ratgebern

Zu den ersten beiden negativen Typen von Ratgebern kann ich nichts sagen, da ich sie alle nicht kenne und sie mir meines Wissens auch von niemandem empfohlen worden sind. Ob dies für mein als interessierter Laie beschränktes Wissen oder gegen die allgemeine Verbreitung dieser Bücher spricht, lasse ich dahingestellt. Den dritten Typ kenne ich am besten, und von den «PEP»-Kursen habe ich gehört. An diesen Ratgebern wird hauptsächlich die «evangelikale» Ausrichtung kritisiert, und nebenbei auch einige Bemerkungen und Beispiele. Dass es auch in anerkannten Erziehungsratgebern unglückliche Anweisungen gibt, habe ich oben schon gezeigt.

«Evangelikale» Dogmatik oder Schwarzmalerei

Der zentrale Punkt der Studie wird auf Seite 46 wunderbar zusammengefasst. Der «evangelikale» Glaube beruhe auf dogmatischen Setzungen, wobei auf das biblische Prinzip der Entscheidungsfreiheit des Menschen Bezug genommen wird. Historisch haben sich gerade auch «evangelikale» Christen für die freie Meinungsäusserung eingesetzt, auch und immer wieder in der Schweiz (siehe zum Beispiel der Gebetsaufruf zum Bettag 2012 der Schweizerischen Evangelischen Allianz). Dass im Denken der «Evangelikalen» «Autonomie und kritisches Hinterfragen» wie behauptet «mit der Gefahr ewiger Verlorenheit» (S.46) einhergehe, müsste zuerst einmal bewiesen werden. Die offenbar festgestellte Nachfrage nach den PEP-Programmen zeigt ja wohl eher das Gegenteil.

Engagierte Christen bringen einen grossen Erfahrungsschatz mit

Im Übrigen ist Erziehen immer mit dem Hinterfragen von eigenen Gewohnheiten und Werten verbunden. Ich wage zu behaupten, dass engagierte Christen da eher besser vorbereitet sind als der Durchschnitt der Bevölkerung. Viele davon, auch ich, haben in der christlichen Kinder- und Jugendarbeit mitgewirkt und sind von Fachpersonen im praktischen Umgang mit Kindern angeleitet worden. Wer im Gegenüber ein Geschöpf Gottes sieht (wie neben den Christen auch die Anthroposophen), der verfällt auch weniger in falsches Mitleid gegenüber Benachteiligten, sondern hilft, diese zu fördern (vgl. Dreikurs/Soltz Kapitel 27). Wichtiger als die moralische Entrüstung der Studie ist deshalb das eigene Hinterfragen, welches Christen und andere immer wieder machen sollen. Ob dazu eine Polemik geeignet ist, kann jeder selbst beantworten.

* Die Stellungnahme von André Tapernoux wurde im Mediendienst der Schweizerischen Evangelischen Allianz publiziert. Der Verfasser ist Pensionskassenexperte und Vater von zwei Kindern.

Datum: 02.05.2013
Autor: André Tapernoux
Quelle: Livenet

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