Polygame Mormonen

Kanada vor einer Weichenstellung

In Kanada steht der staatliche Schutz der Ehe auf dem Spiel. Polygame Mormonen fordern die förmliche Legalisierung ihrer Lebensweise, obwohl Ex-Mitglieder der Gemeinschaft von Missbräuchen und Grausamkeiten berichten. Die Anhörungen vor dem Obersten Gericht von British Columbia erhellen die Bedeutung der Monogamie für Gesellschaft und Staat.
Polygamie
Carolyn Jessop. (Foto: flickr/sweethappychick)

«Die Belege dafür, dass Polygamie an sich sowohl für Einzelne wie für die Gesellschaft schädlich ist, sind erdrückend.»  Dies schreibt Daphne Bramham, Kolumnistin der «Vancouver Sun», die sich seit Jahren mit den mormonischen Polygamisten im Westen Kanadas befasst, nach der ersten Hälfte des Verfahrens.

Vor Robert Bauman, dem Vorsitzenden des Obersten Gerichts von British Columbia, treten Experten, Mitglieder und Ex-Mitglieder der Mormonen-Splittergruppe «Fundamentalist Church of Jesus Christ of Latter Day Saints» (FLDS) pro und kontra Polygamieverbot auf. Bleibt die Vielweiberei weiter ein Delikt und muss das alte Gesetz (endlich) durchgesetzt werden? Oder gibt der kanadische Staat, aus Respekt vor Grundrechten, die Lebensformen frei, auch wenn dabei Frauen und Minderjährige schwer geschädigt werden? Der Richterspruch, der in einigen Wochen erwartet wird, könnte für das kanadische Parlament in Ottawa wegleitend sein.

Monogam ist modern

Der Sozialwissenschaftler Joseph Henrich plädierte aufgrund eigener Feldforschungen für den Schutz der Monogamie (Einehe), da sie ein Pfeiler der Demokratie sei. Wenn Männer mehrere Frauen nehmen könnten, gebe es mehr frustrierte Männer mit kriminellem und Risikoverhalten, weiter eine Jagd auf Bräute und ein tieferes Heiratsalter, was sich zuungunsten der Frauen auswirke. Zudem kümmerten sich Männer, die weitere Frauen ehelichen könnten, tendenziell weniger um die Bildung ihrer bereits geborenen Kinder. Der Gelehrte unterstrich auch das Gewaltpotenzial, das in einer grossen Zahl von Halbgeschwistern liegt.

Laut Henrich müsste Kanada nach der Legalisierung der Polygamie mit der Zuwanderung reicher Männer aus (islamischen) Vielehe-Ländern rechnen. Zudem könnten einheimische Showbiz- und Sport-Promis sich weitere Frauen nehmen und eine Welle von Nachahmern finden. Henrich berichtete von einer Umfrage bei seinen Studentinnen: Wenn sie, bei legaler Polygamie, sich gleichzeitig in einen verheirateten Milliardär und einen unverheirateten Durchschnittsverdiener verliebten, welchen Mann würden sie wählen? Zwei von drei Studentinnen nannten den Milliardär.

Missbrauch von Eltern toleriert?

Die Gegenseite (pro Polygamie) brachte laut Bramham wenig überzeugende Argumente vor. Die Religionswissenschaftlerin Lori Beaman von der University of Ottawa wirkte unsicher. Sie hatte geäussert, im US-Bundesstaat Texas habe die Polizei grundlos eine Razzia gegen eine polygame Gemeinschaft durchgeführt. Im Schlussbericht ist zu lesen, dass 12 Mädchen zwischen 1 und 15 Jahren sexuell missbraucht worden waren und ihre Eltern davon wussten. Von den Mädchen waren zwei im Alter von 12 Jahren verheiratet worden, drei mit 13 und zwei mit 14.

Babies misshandelt

Neben FLDS-Mitgliedern, die anonym aussagen können, treten im Lauf des Verfahrens auch Ex-Mitglieder der abgeschottet lebenden Gemeinschaft vor Gericht auf, unter ihnen Carolyn Jessop, die ihre nächtliche Flucht und die Mühe der Aussteigerinnen-Existenz in zwei Büchern geschildert hat. Als Zeugin für die Regierung von British Columbia schilderte Jessop die Misshandlung von Babies als übliche Praxis. Um ihre Autorität geltend zu machen, schlügen Väter die Kinder. «Wenn es schreit, halten sie es mit dem Gesicht nach oben unter den Wasserhahn, bei laufendem Wasser. Wenn sie zu schreien aufhören, schlagen sie es weiter und der Zyklus wird wiederholt, bis sie erschöpft sind.» Dies werde typischerweise von Vätern getan, sagte Jessop. Der Anwalt der FLDS bestritt diese Aussage im Kreuzverhör nicht.

Carolyn Jessop, eine Enkelin des Gründers von Bountiful, war mit 18 als vierte Frau mit dem damals 50-jährigen Merril Messop verheiratet worden. Nach der Flucht 2003 kämpfte sie mit Verweis auf die Misshandlungen um das alleinige Sorgerecht für ihre acht Kinder. Merril habe seine 54 Kindern oft so traktiert, sagte die Frau. Sie habe es nicht mehr ertragen, dass sie ihre eigenen Kinder nicht schützen konnte. Laut der Vancouver Sun ist Merril Jessop nun ein Bischof der FLDS.

Liberales Kanada

Allerdings versteht sich im multikulturellen, liberalen Kanada nicht von selbst, dass die soziale Schädlichkeit von Polygamie – auch wenn sich erdrückende Belege dafür finden – ihr anhaltendes Verbot im Strafrecht rechtfertigt. Die Menschenrechtsjuristin Rebecca Cook aus Toronto argumentierte für die Beibehaltung des Verbots. Sie sagte vor Richter Bauman, Kanada würde mit einer Entkriminalisierung der Polygamie im Westen einzig da stehen.
Juristen streiten sich indes, ob bei einer Aufhebung des Verbots die Missbräuche, welche in polygamen Gemeinschaften auftreten, nicht wirksamer sanktioniert werden könnten. Das Polygamieverbot, in Kanada 1890 erlassen, hatte vor 74 Jahren letztmals zu einem Urteil geführt; seither sehen die Behörden dem Treiben der mormonischen Sektierer auf ihrem Gelände Bountiful unweit der Stadt Lister zu.

Mormonische Nostalgie nach der polygamen Frühzeit

Laut John Walsh, der die FLDS als Experte vertrat, haben sich viele Mormonen noch immer nicht mit dem Polygamieverbot abgefunden, das seit 120 Jahren gilt (seine Akzeptanz war die Bedingung dafür, dass der Mormonenstaat Utah in die Vereinigten Staaten von Amerika aufgenommen wurde). Walsh erachtet es als möglich, dass 50 bis 60 Prozent des anerkannten Hauptstroms der Mormonen (Church of Jesus Christ of Latter Day Saints) «eine Rückkehr der Polygamie, die sie als eine heilige Praxis sehen, wünschen». Die andere Hälfte sehe Polygamie als einen «archaischen» Brauch. Walsh schätzte die Zahl der Mormonen, die wie die Gründer der Gemeinschaft im 19. Jahrhundert die Vielweiberei praktizieren, in Nordamerika auf 50.000. 10.000 sollen der FLDS angehören.

Walsh war vor etwa 20 Jahren zum Mormonentum übergetreten; seine wissenschaftliche Qualifikation wurde vor Gericht in Zweifel gezogen, da er sich als «Cheerleader für Polygamie» betätigt habe. Die Reporterin der Vancouver Sun folgert aus Walshs Ausführungen indes, dass eine Legalisierung der Polygamie in Kanada zu einem Bruch des Mormonentums führen könnte. Nicht auszuschliessen wäre, dass dann ein grosser Teil der traditionalistischen Mormonen nach Kanada immigrieren wollte, um dem Vorbild des Gründers Joseph Smith und seines Nachfolgers, des Siedlerführers Brigham Young, nachleben zu können.

Mormone bestimmt Platz der Frau auch im Jenseits

Das patriarchalische mormonische Denken kreist um die priesterliche Vollmacht von Männern. Es versteigt sich zur Behauptung, dass Männer den Platz ihrer Gattinnen im Jenseits bestimmen, welches als Ansammlung höherer und tieferer Himmelssphären gedacht wird. Für traditionalistische Mormonen geht es angeblich darum, dass keine Frau der himmlischen Erhöhung durch einen Gatten verlustig geht. Walsh schrieb: «Wären Männer für ewig auf eine Frau limitiert, hätten manche Frauen nie die Gelegenheit, erhöht zu werden.»

Datum: 22.01.2011
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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