Familie heute

Kinderleben nach Annabelle

Eine erfolgreiche Maman, ein erfolgreicher Papa und mit zehn Wochen unter Dauer-Fremdbetreuung – die Zeitschrift «Annabelle» erzählt vom Leben französischer Kleinkinder. Erstrebenswert oder Horror für eine Kinderseele?
Kinderleben nach Annabelle

Statistisch gesehen ist eine Französin zu 100 Prozent berufsstätig, hat 2,1 Kinder und ist in ihrer Arbeit erfolgreich. So schreibt es jedenfalls die Zeitschrift «Annabelle» in ihrem neusten Heft Nummer 19/2010. Und sie hat Beweise: Die Vorzeigemutter mit Namen Lisa Arbellot stemmt nach der Arbeit sogar noch Gewichte und hofft darauf, dass ihr kleiner Junge nicht schon schläft, wenn sie abends nach einem 11-Stunden-Tag nach Hause kommt.

Arbellot gab dem Baby sogar drei Wochen lang die Brust, «ihm zuliebe», bevor sie es nach zehn Wochen an eine Tagesmutter abgab. Französinnen, so verkündet «Annabelle», sehen auch abends noch frisch aus, so dass der Look einfach bleiben kann. Wimperntusche reicht, Gloss braucht es nicht. Die Frau strahlt.

Das habe einen Grund: Die meisten Väter und Mütter in Frankreich geben ihr Kind ab zwei Jahren in eine Ganztagesschule. Sie ist nicht obligatorisch, dauert meistens von 8 bis 17 Uhr und kostet etwas. Auf diese Weise können die Eltern in Ruhe Karriere machen.

Die Gute-Nacht-Familie

Audrei Goutard, eine 40-jährige  Autorin und Fernseh-Journalistin, hat bereits drei Kinder. Zweimal pro Woche geht sie sogar mit ihrem Mann aus. Die beiden sehen ihre Kinder frühestens nach 11 Stunden wieder. Oder sind es die Kinder, die dann die Eltern wiedersehen? Offenbar ist das in Frankreich normal.

Diese Frauen überlegen sich nicht, ob sie heute Gemüse oder Pasta kochen sollen. Sie quälen sich vielmehr mit den Gedanken: «Wo finde ich einen Krippenplatz?» – «Muss ich meine Stiefkinder lieben?“ – Und das Wichtigste: «Wie bleibe ich als Mutter eine begehrenswerte Frau?»

Die Autoren der besagten Reportage interessiert es nicht, wie es in einer Kinderseele tatsächlich aussieht. Auf die Frage, was denn mit dem Kind sei, das bis sechs Jahre noch nicht schreiben und lesen kann, meint die besorgte Fernseh-Redaktorin: «Mein Sohn geht zweimal die Woche zum Psychologen.»

 

Kommentar

Als ununterbrochen teilzeitlich berufstätige Mutter von drei Kindern – 20, 18, 8 Jahre – habe ich diesen Beitrag in der Zeitschrift «Annabelle» mit Interesse und schliesslich mit Erstaunen gelesen. 

Denn das angebliche Glanzleben einer berufstätigen Mutter oder Vaters mit einem Kleinkind, das hier vorgegaukelt wird, das gibt es nicht. Was es tatsächlich gibt, ist Folgendes: Kleine und grössere Kinder mit Bedürfnissen nach Wärme, Aufmerksamkeit und einem geregelten kindergerechten Alltag.

Und: Eltern, die den richtigen Umgang mit der Zeit suchen müssen. Wenn auch noch Arbeit ausser Haus erledigt sein soll, wird das zu einer grossen Herausforderung für die ganze Familie. Denn die Balance einer Familie gerät schnell aus den Fugen, wenn auf familiärer wie auch auf beruflicher Ebene Bedürfnisse zu stillen sind.

Werden die Grundbedürfnisse eines Kindes regelmässig missachtet, gerät es aus dem inneren Gleichgewicht. Irgendwann muss ja «Familie» stattfinden, damit ein Kind Gefühle der Geborgenheit entwickeln kann.

Offen gestanden, wundert es mich nicht, wenn ein Kind in Frankreich nach einer hundertprozentigen Fremdbetreuung mit sechs Jahren noch nicht lesen und schreiben kann. Dass man es dann zum Psychologen schickt, empfinde ich schlichtweg als Zumutung für das Kind.

Grundsätzlich sind Tagesschulen wünschenswert und eine Entlastung für berufstätige Mütter und Väter. Hier herrscht in der Schweiz sicher Nachholbedarf. Sobald aber Grundbedürfnisse von Kindern beschnitten werden, damit Eltern Karriere machen können, wird es mehr als problematisch.

Schön und gut, wenn Männer und Frauen arbeiten und Kinder haben, aber am Ende ist die Familie immer noch die Insel, in der Kinder das Leben lernen. Das sollten Eltern nicht vergessen. Wenn das nicht mehr möglich ist, dann wird die Gesellschaft zerfallen zu einer Masse einsamer Individualisten.





Datum: 08.11.2010

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