Türkei und EU – Beitrittsantrag löst Wertedebatte aus

Istanbul

Bei den jüngsten Wahlen in der Türkei hat die AKP, die islamistische „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung", einen Sieg davongetragen. Er hat ein weites Echo ausgelöst und wird für dieses Land eine grosse Herausforderung darstellen. Denn mit der Verfassung von 1923 hatte sich das Land zu einem säkularen Staatswesen erklärt. Die bisher einzige Erfahrung mit einer islamisch orientierten Regierung hat im Jahr 1997 mit einer Machtübernahme durch das Militär geendet.

Auch wenn die AKP nur knapp über ein Drittel der Stimmen errungen hat, wird sie doch mit einer absoluten Mehrheit im Parlament vertreten sein. Denn nach der geltenden Wahlordnung erhalten Parteien mit weniger als 10 Prozent der Stimmen keine Parlamentssitze. Es werden dort also nur Mitglieder der AKP und der Republikanischen Volkspartei vertreten sein.

Anstiftung zu religiösem Hass

Der Vorsitzende der AKP und frühere Bürgermeister von Istanbul, Recep Tayyip Erdogan, kann allerdings wegen einer Vorstrafe nicht Ministerpräsidenten werden. Im Jahr 1999 musste er eine viermonatige Gefängnisstrafe wegen Anstiftung zu religiösem Hass absitzen. Er hatte ein entsprechendes religiöses Gedicht öffentlich vorgetragen.

Der neue Ministerpräsident Abdullah Gül durch den Präsidenten der Türkei, fand bei seiner Ernennung beschwichtigende Worte. Er sei zuversichtlich, dass die Türkei auch unter islamischer Leitung ein demokratischer Staat bleibe, der sich nach Westen hin orientiere. Ein vorrangiges Ziel seiner Politik sei die Aufnahme des Landes in die Europäische Union.

„Eine andere Kultur"

Bisher hat die EU die langjährigen Annäherungsversuche der Türkei strikt abgelehnt. Nach dem Wahlsieg der AKP wurde der frühere französische Präsident Valery Giscard mit den Worten zitiert, die Türkei sei nicht Teil des Kontinents und ihr Beitritt wäre „das Ende der EU". D'Estaing leitet den Ausschuss, der eine EU-Verfassung vorbereitet. Die Türkei habe „eine andere Kultur, eine andere Einstellung, eine andere Lebensweise", und ihre demographische Dynamik würde sie bald zum grössten EU-Mitglied machen (in ihr leben zur Zeit 67 Millionen Menschen). Die Europäische Kommission habe sich zwar von diesem Kommentar distanziert. Doch Giscards Bemerkungen „sprechen offen aus, was viele EU-Politiker privat und hinter vorgehaltener Hand sagen", hiess es bei der Nachrichtenagentur Reuters.

Als Reaktion darauf kritisierte AKP-Führer Erdogan die Vorstellung, die EU sei eine Art „christlicher Klub." – „Ich finde, dass seine Bemerkungen zu diesem Zeitpunkt unglücklich sind", wurde Erdogan in der Londoner „Times" am 12. November zitiert. „Die EU sollte wahrhaftig keine Schritte unternehmen, die den interkulturellen Dialog bedrohen könnten. In dieser Haltung sehe ich etwas, was ihn vereiteln könnte."

In dem Interview meinte Erdogan zudem, sein Land wolle der Europäischen Union beitreten, weil so die Freiheiten, derer sich der Westen erfreut, auf das türkische Volk ausgedehnt würden. Die Türkei hätte sonst Mühe, den gegenwärtigen autoritären Staat zu überwinden.

„Nicht islamistisch"

Die AKP sei „nicht religiös fundamentalistisch" und auch „nicht islamistisch", betonte er bei anderer Gelegenheit (in der Zeitschrift Newsweek vom 18. November). Die Türkei werde vielmehr ihre Reformen auf dem Gebiet der Menschenrechte und der Demokratie fortsetzen, auch jene zur Freiheit der Meinungsäusserung und Religion und zur Abschaffung der Gefängnisfolter.

Mehrere türkische Kolumnisten befürworten den Beitritt ihres Landes zur EU. Soli Özel und Dani Rodrik, Dozenten auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen, wiesen in der Financial Times vom 15. August auf mehrere positive Entwicklungen hin. So habe die Türkei kürzlich die Todesstrafe abgeschafft und ein Gesetz verabschiedet habe, das Rundfunk- und Fernsehsendungen und sowie Schulunterricht in allen im Land gesprochenen Sprachen erlaube. Den Antrag der Türkei auf einen EU-Beitritt weiterhin abzulehnen sei „politisch, strategisch und ethisch kontraproduktiv", erklärten sie. Die Türkei habe sich während des Kalten Krieges als ein treuer Partner des Westens erwiesen. Und angesichts der Nahostkrise könnte ihre Rolle in Zukunft sogar noch entscheidender werden.

Im Wall Street Journal vom 12. November bemerkt Rosemary Righter, Mitherausgeberin der Times in London, der Wahlsieg der AKP sei nicht so sehr ein Votum für eine islamistische Partei als vielmehr ein Aufbegehren gegen die grobe Misswirtschaft durch die anderen Parteien des Landes. Righter erklärt, Erdogan habe als Bürgermeister von Istanbul „eine effektive, sozialliberale und vor allem saubere Politik gemacht". Zweifel blieben, räumte sie ein, hinsichtlich des islamistischen Charakters der Partei und darüber, was dies für die Regierungspolitik bedeuten werde. Sie rief jedoch die EU dazu auf, ernsthafte Verhandlungen über den Beitritt der Türkei zu beginnen. Der Kampf gegen den islamistischen Terrorismus brauche „eine prowestliche, sich modernisierende Türkei, einen Stabilisator vor den Toren des Iran, des Irak und der arabischen Welt".

Wofür tritt Europa ein?

Eine ähnliche Ansicht vertritt Timothy Garton Ash im Guardian vom 14. November. Er schreibt dort, wenn es Europa vor allem darum gehe, eine stark zusammenhaltende politische Gemeinschaft zu schaffen mit dem Ziel einer Supermacht, dann müsste die Türkei wohl für ein weiteres Jahrzehnt ausgeschlossen werden. Denn zunächst gehe es wohl darum, die gegenwärtige Liste von 10 neuen Teilnehmern zu verdauen. Aber wenn die Europäer glauben sollten, es sei "dringender, Demokratie, Achtung vor den Menschenrechten, Wohlstand und deshalb die Chancen für Frieden in der gefährlichsten Region in der Welt zu fördern", dann sollte es der Türkei gestattet werden, der Union beizutreten.

CSU als erste deutsche Partei dagegen

Am selben Tage, an dem der neue türkische Ministerpräsident die EU-Vollmitgliedschaft zu seinem Hauptziel erklärte, legte sich die CSU als erste deutsche Partei auf die Ablehnung dieses Wunsches fest. Hinter der CSU stehen zahllose Deutsche, denen die christlich-abendländische Geschichtseinheit und Kulturerfahrung wichtig ist. „Europa muss die Frage nach seinen Grenzen beantworten. Seine geografische Ausdehnung sollte sich an gemeinsamen Wertvorstellungen und geschichtlichen Erfahrungen ausrichten“, heisst es in dem vom CSU-Parteitag angenommenen Antrag.

Kock lehnt Aufnahme der Türkei in EU ab

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Manfred Kock, hat sich gegen eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union ausgesprochen. In der augenblicklichen Situation seien die europäischen Verfassungsnormen in der Türkei nicht realisiert.

In der Türkei sei die Religionsfreiheit für christliche Gruppen nicht gewährleistet. Ein Staat müsse aber eine solche "säkulare Tradition" haben, erläuterte Kock. Es handele sich dabei allerdings um seine persönliche Meinung, nicht um die der EKD.

Christentum und Europa

Es steckt schon eine gewisse Ironie dahinter, dass innerhalb der EU gerade jetzt Stimmen gegen den Beitritt der Türkei laut werden. Denn einerseits wird an einer EU-Verfassung gearbeitet, die – so steht zu befürchten – eine säkularistische Ordnung schafft und jeden ausdrücklichen Hinweis auf christliche Werte ausschliesst. Andererseits heisst es, ein islamischer Staat könne sich wohl schwerlich einem christlichen Kontinent anschliessen ...

Langfristig sehen sich europäische Christen jedenfalls vor die Aussicht gestellt, mit einen grossen Anzahl Moslems auf einem Kontinent zusammenzuleben. Das Wichtigste dürfte dann sein, umso entschlossener die eigene Identität, den eigenen Glauben und die eigene Kultur zu bewahren und dann in dieses neue Miteinander einzubringen. Es kann sein, dass sie dafür erst wieder neu entdeckt und ihre Wurzeln wiederbelebt werden müssen, gerade auch ihre christlichen

Quellen: ZENIT/epd/Welt/Livenet

Datum: 05.12.2002

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