Offener Brief an Stéphane Lambiel

Stéphane Lambiel, geboren am 2. April 1985. Aufgewachsen in Martigny, heute wohnhaft in Lausanne. 1997 wurde er als Eiskunstläufer das erste Mal Schweizer Meister bei den Junioren. 2005 gewann er in Moskau den Weltmeister-Titel.

Lieber Stéphane
Das tat gut. Wir Schweizer haben wieder einen Weltmeister. Nach den miserablen Leistungen unserer Skifahrer war der Selbstwert von uns schliesslich mehr als angeknackt. Und dann kamst du. Weltmeister im Eiskunstlaufen! In dieser vielbeobachteten Sportart aus der Mischung von Athletik, Ästhetik und Kunst. Der 17. März 2005 war nicht bloss für dich die bisherige Krönung einer eindrücklichen Karriere. Der ganzen Nation hat er gut getan. Mir als Wahlwalliser natürlich noch mehr. Herzlichen Glückwunsch!

Dabei ist mir übrigens aufgefallen, dass uns nicht bloss das Wallis verbindet. Auch gewisse Charakterzüge haben wir gemein. Du bezeichnest dich unter anderem als verrückt, leidenschaftlich und ungeduldig. Da sehe ich mich auch wieder. Natürlich nicht auf sportlichem Gebiet. Aber als kreativer Autor, Hotelier, Pastor und Hobbywinzer kommen diese Charakterzüge auch zum Tragen. Sicher, vom Alter her könnte ich dein Vater sein. Mein Ältester hat übrigens wie du im Juni 2004 die Matura im Wallis abgeschlossen. Auch bin ich nicht so sprachbegabt wie du: Französisch, deutsch, englisch, portugiesisch, italienisch. Du bist wirklich ein Multitalent. Doch dass du deine Ziele auch mit viel Einsatz zu erreichen versuchst, ist offensichtlich. Und da bist du echt ein Vorbild. Nicht bloss für die Jungen. Auch für Leute wie mich, im fortgeschrittenen Alter. Eigentlich weiss ich sehr viel über dich, deine Familie, deine Vorlieben. Du hast nicht gerne Käse und du sammelst, hegst und pflegst Marienkäfer.

Doch weiss ich sehr wenig über das, was dich persönlich beschäftigt. Was bedeutet dir Gott? Welche Werte sind dir wichtig? Wie stellst du dir dein Alter vor? Wo suchst du Halt, wenn es dir sportlich einmal nicht mehr so gut geht? Nicht dass ich dir das wünsche. Im Gegenteil, ich wünsche dir noch viele Erfolge. Und auch die nötige Gesundheit. Allerdings wünsche ich dir auch eine Grundgeborgenheit, wie ich sie in meinem Gott erlebe. Diese hält auch bei Misserfolg und wenn man älter wird.

Ich würde mich über eine kurze Antwort sehr freuen. Ich grüsse dich herzlich aus dem Oberwallis, wünsche dir eine gute Erholungs- und Vorbereitungsphase und freue mich, deine Sprünge und fast schon legendären Pirouetten im nächsten Winter wieder bewundern zu können.

Christoph Gysel

Datum: 16.06.2005
Quelle: Chrischona Magazin

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