Journalist Wolfram Weimer

«Wir schätzen Wahrheiten nicht mehr genug»

Der ehemalige Chefredakteur des Nachrichtenmagazins «Focus», Wolfram Weimer, bezeichnet die Schuldenkrise als «kulturelle Krise». Die Wahrheit bleibe auf der Strecke, weil «wir uns von Gott als letztgültiger Wahrheit verabschiedet haben».
Der ehemalige «Focus»-Chefredakteur Wolfram Weimer beklagt, dass wir uns von Gott verabschiedet haben.

«Die Schuldenkrise ist eine Chiffre unserer Zeit, wir haben Schulden der Identität, weil wir Wahrheiten nur noch fremd entlehnen, sie uns leihen, und zwar von der Masse.»

Der ehemalige Chefredakteur des Nachrichtenmagazins «Focus», Wolfram Weimer, hat in einer Rede beim Medienempfang des Kölner Erzbischofs die Schuldenkrise mit einer kulturellen Krise verglichen, bei der die Wahrheit auf der Strecke bleibt. Er plädiert für einen «Rettungsschirm der Individualisierung und neuen Ernsthaftigkeit».

Falsche Prioritäten gesetzt

«Wir haben eine seltsame Hierarchie von Wichtigkeiten etabliert, die technische und wissenschaftliche Intelligenz gering schätzt, die rhetorische höher und die inszenatorische am höchsten», beklagte Weimer in seiner Rede.

Deshalb träumten Kinder heute nicht mehr davon, Forscher, Ingenieure, Lokführer oder Ärztinnen zu werden, sondern Model, Fussballer und Showmaster. «Die Welt der Bühne hat die des Labors als Sehnsuchtort abgelöst – Wunderkerzen ersetzen Wahrheiten.»

Die Folgen seien heikel, sagte Weimer. Lieber schaue man auf Heidi Klums stolzierende Mädchen, lausche millionenfach den Selbstblamagen von «Deutschland sucht den Superstar» – und lasse es zu, «dass Tausende unserer besten Wissenschaftler auswandern».

«Von Gott verabschiedet»

Die Hierarchie der Wahrheiten werde durch eine Hierarchie der Fähigkeiten ersetzt, stellt Weimer fest. «Wir schätzen Wahrheiten einfach nicht mehr genug, seitdem wir uns von Gott als letztgültiger Wahrheit verabschiedet haben.» Dabei höre man immer weniger auf das, was einer zu sagen habe, als auf das wie und wo und vor wie vielen er es sagt.

Die Auflösung fundamentaler Verbindlichkeiten führe im Alltag dazu, «dass die Politik sich am liebsten auf Umfragen stützt, dass die Wirtschaft sich an Analysten und der Marktforschung orientiert und der Journalismus an der nackten Quote». Dies sei alles nachvollziehbar, nur zahle man damit einen Preis für diese Verflachung.

«So bekommen wir eine Politik, die sich massen- und mehrheitskonform seicht dahin biegt», sagt Weimer voraus. «Sie verweigert das, was man von ihr bräuchte: klare Weichenstellungen, Führung durch Haltung, Mut zur Meinung.»

«Mehr Haltung»

«Unsere Wahrheiten sind keine Felsen mehr, sie sind Wanderdünen geworden. Die Wertpapier- und die Wertekrise liegen dicht beieinander», warnt Weimer. Nun könne man hoffen, dass im Moment der Krise nicht nur die Finanzmärkte eine neue Solidität erzwinge.

Irgendwann werde ein Rettungsschirm der Individualisierung und «neuen Ernsthaftigkeit» an Börsen wie in Buchstaben kommen müssen, hofft der Journalist. «Die Politik wird wieder lernen, dass Wahrheiten unabdingbar sind, dass Demokratie nie alternativlos ist, und dass heute nicht mehr gilt, mehr Demokratie zu wagen, sondern mehr Haltung.»

Datum: 17.09.2011
Quelle: Pro

Werbung
Livenet Service
Werbung