Im Alltag

Die Räuber der Freude

Räuber schleicht sich an eine Frau
Es sind emsige Alltagsdiebe, Prägungen und Haltungen, die sich wie Schatten über die Freude legen. Vier dieser Freudendiebe hat Birgit Schilling identifiziert und stellt sie hier vor.

Freudenräuber 1: Überverantwortlichkeit

Menschen, die andere unterstützen oder begleiten, können leicht in die Falle der Überverantwortlichkeit geraten. Vielleicht kommt dir jetzt der Bibelvers in den Sinn: «Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen» (Galater Kapitel 6, Vers 2). Ja, in christlicher Gemeinschaft ist es eine Gabe, einander zu ermutigen, zu trösten, zu ermahnen, zu raten und auch mit praktischer Hilfe beizustehen. Doch retten können wir einander nicht. Und so heisst es im Brief an die Galater weiter: «Denn ein jeder wird seine eigene Last tragen» (Vers 5). Gott gibt uns nicht die Kraft, die Lasten anderer dauerhaft zu tragen. Damit überfordern wir uns. Dafür sind wir Menschen gar nicht ausgestattet. Er aber schon. Er ist Gott. Er ist der Retter der Welt. Er ist Emmanuel, der «Gott ist mit uns», und zwar für jeden Menschen auf dieser Erde.

In Matthäus Kapitel 11, Vers 30 heisst es: «Mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.» Hier sagt Jesus, dass das Joch, das er uns auferlegt, genau an unser Tragevermögen angepasst ist. Bei niemandem ist das Leben ein Selbstläufer. Wir alle haben eigene Lasten zu tragen. Jesus verspricht, uns dabei zu helfen. Er ist unser Hirte, der uns beisteht, weidet und leitet. Es ist erfrischend, morgens zu beten: «Du bist Gott – und ich bin es nicht.» Wenn ich dieses Gebet jeden Morgen am Ende meiner stillen Zeit spreche, atme ich häufig tief auf. Ich bemerke in mir, während ich bete, wie ich mir doch das ein oder andere Anliegen an Land gezogen habe, als wäre ich Gott, der in anderen etwas bewirken müsste. Doch das ist ein Irrtum. Es ist unsere Aufgabe und Würde, dass wir letztlich vor Gott stehen und in und aus der Verbindung mit ihm nur unseren eigenen nächsten Schritt gehen können. Keiner – weder die Eltern noch die Kinder noch Geschwister, weder Freundinnen noch Freunde noch der Ehepartner – kann uns das abnehmen. Und auch wir können es anderen nicht abnehmen.

Wenn wir uns die Probleme anderer zu sehr zu eigen machen, dann raubt uns das die Freude. Deshalb ist die Fürbitte, also ein kurzes Gebet für den anderen, und danach das Loslassen, das Einzige, das wir mit den Fragestellungen anderer tun können, so schwer es uns manchmal fällt. Jesus klagte einmal: «Jerusalem, Jerusalem … wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!» (Lukas Kapitel 13, Vers 34). Selbst Jesus konnte und wollte Menschen nicht steuern. Er hat sich nie aufgedrängt und tut es auch heute nicht.

Freudenräuber 2: Stress und Hetze

In unserer Gesellschaft scheint es normal, ja fast erstrebenswert zu sein, wenn man sagen kann: «Ich bin gerade voll im Stress.» Es ist, als würden wir damit ausdrücken: «Ich bin aktiv und wichtig!» Wenn wir aber dauerhaft gestresst von einem zum anderen hetzen, verlieren wir das Gespür für uns selbst. Wir nehmen uns mit unseren Bedürfnissen und unserem Dasein nicht mehr wahr. Auch unsere Fähigkeit, Wohlsein und Freude zu spüren, nimmt ab. In diesem Zustand sind wir nicht mehr wach für die Gegenwart Gottes in uns. Der Heilige Geist hat es schwer, uns sanft zu leiten, da wir im Tunnelblick gefangen sind. Unter Stress und Hetze nehmen wir auch unsere eigenen psychischen und körperlichen Grenzen nicht mehr wahr. Wir sehen die Menschen um uns herum nicht mehr, haben keinen liebevollen Blick mehr für sie.

Wann immer wir gestresst sind, ist es ein Geschenk, wenn wir das bemerken und uns eingestehen: «Ja, ich bin gerade gestresst.» Nun gilt es, entgegen dem Drang, immer schneller zu werden, einen Gang runterzuschalten, langsamer zu werden und dann endlich innezuhalten. Denn nur, wenn unser inneres Alarmsystem nicht aktiviert ist, wenn wir in unserem Wohlfühltempo sind, können wir Wohlsein und Freude spüren. Unser Wohlfühltempo ist etwas anderes als unser Gewohnheitstempo. Meist ist das Gewohnheitstempo schneller, als es uns guttut. Oft stecken Antreiber dahinter, dass wir das Gewohnte schnell erledigen wollen und ungehalten sind, wenn länger dauert. Meine Familie und Freunde könnten so manche Anekdote über mich erzählen, wo es mir genau so erging.

«Birgit» und «schnell sein müssen» gehörten früher zusammen. Ich habe einen langen Weg hinter mir – und bin immer noch in Gefahr, rückfällig zu werden. Doch es wird besser mit mir und ich spüre Segen und Wohlsein in diesem Prozess der Langsamkeit. Lange nannte ich mein Wohlfühltempo «Schleichmodus». Gleichzeitig musste ich mir eingestehen, dass mir dieses gefühlte «Schleichen» richtig guttat. Oft war ich am Abend in der Rückschau erstaunt, dass ich dennoch eine Menge geschafft hatte – und ausserdem mit mehr Freude durch den Tag gegangen war. Ich schlich nämlich gar nicht wirklich. Doch mein Körper musste sich erst an diese Langsamkeit gewöhnen.

Freude hat etwas mit Leichtigkeit zu tun, mit Lebendigkeit und ja, auch mit Chaos. Kreativität und Freude leben davon, dass es Freiraum gibt und nicht alles durchgetaktet ist. Innerlich genauso wie äusserlich. Doch der nächste Freudenräuber raubt uns das. Denn Chaos kann er gar nicht leiden.

Freudenräuber 3: Perfektionismus und das Streben nach Kontrolle

In meinem Leben war ein Freudenräuber über Jahrzehnte stark aktiv: Ich strebte unaufhörlich danach, alles im Griff zu haben. Ich wollte und konnte Sicherheit nicht als unbedingten Zielpunkt aufgeben, ohne dass ich von Angst überflutet wurde. Früher lief das im Unbewussten ab. Alles, was meiner unbedingten Sicherheit im Weg stand, versuchte ich sowohl in mir als auch in meiner Umgebung auszumerzen. Damit verlor ich viel Lebendigkeit, setzte mich und andere unter Druck und war oft erschöpft. Sprudelnde Freude kann sich so nicht Bahn brechen.

Zu einem lebendigen, frohen Leben gehören Unwägbarkeiten, Fragilität und Unsicherheit dazu. So ist das Leben auf dieser Welt für uns Menschen. Es ist eine innere Notwendigkeit, dass wir das Ziel der vermeintlichen Sicherheit aufgeben und stattdessen lernen, inmitten der Unsicherheit des Lebens im Vertrauen auf Gott tapfer und froh zu leben. Das ist die wahre Lebenskunst.

Den inneren Ansprüchen nach kontrollierbarer Sicherheit zu folgen und krampfhaft am eigenen Weg festzuhalten, das erschöpft uns. Sie sind es, die uns oft den letzten Nerv kosten, nicht unser Umfeld oder andere Menschen, denen wir die Ursache gern in die Schuhe schieben. Eine solche Haltung ist aus christlicher Sicht eine Zielverfehlung. Wir wollen so die Zügel krampfhaft in der Hand behalten und nicht Gott überlassen. Stattdessen lautet die Botschaft von Jesus an uns vielleicht heute so: «Sorge dich doch nicht! Steh dir und deiner Freude nicht ständig im Weg, indem du immer schon um drei Ecken versuchst vorzusorgen. Nimm wahr, welche innere Unruhe der Verlust von Kontrolle in dir auslöst. Sei da, wo du jetzt bist, in diesem Augenblick. Atme ein und atme aus. Spür dich und deinen Leib. Sei in deinen Sinnen! Vertrau mir für dein Hier & Heute. Und morgen? Werde ich doch auch da sein.»

Will ich wirklich auf meinem Grabstein stehen haben: «Sie hat, so gut es ging, ihre To-dos abgearbeitet – und im Wohnzimmer war es auch immer ordentlich»? Es hilft, Ansprüche, wie etwas zu sein hat, fahren zu lassen und sich humorvoll auf das einzulassen, das wir eigentlich ablehnen. So ist das Leben – immer mal wieder. Heute rufen wir einander diese Tage ab und zu lachend in Erinnerung: «Wisst ihr noch, damals …?»

Freudenräuber 4: Andauernde Überlastung

Immer mal wieder führt uns das Leben in überfordernde Situationen. Während unserer Missionarszeit in Nepal zogen Wolfgang und ich mit zwei kleinen Kindern in ein kleines Bergdorf. Um vom Strassenkopf bis dorthin zu gelangen, mussten wir je nach Jahreszeit 60 bis 100 Kilometer laufen. Kurz nach unserer ersten Ankunft dort kam auf wundersame Weise unser drittes Kind zu uns. Nun war zusätzlich noch ein kleines Baby zu versorgen. Ich konnte es immer kaum erwarten, dass Wolfgang an den sechs Arbeitstagen (in Nepal so üblich) gegen 17 Uhr von seiner Arbeit im Gesundheitswesen nach Hause kam. Doch oft wurde es 18 Uhr und später. Wenn er dann kam, war ich ärgerlich und voller Anschuldigungen. Über Wochen hing der Haussegen schief.

Ich wusste: Wolfgang war kein Workaholic. In dieser aktuellen Situation zerriss es ihn. Weder seiner Arbeit als Leiter des Gesundheitsprogramms für diese Region noch seiner Frau konnte er es recht machen. Und so tat ich etwas für mich Verwunderliches: Ich liess es los. Ich setzte Wolfgang frei, im kommenden Jahr so viel zu arbeiten, wie er wollte. Mir war auf einmal bewusst: Ich wollte Wolfgang pünktlich daheim haben, weil ich von dem neuen Alltag mit drei Kleinkindern immer wieder überfordert war, mich zumindest so fühlte. Wie erleichternd, als ich dieses Gefühl nun fassen konnte. Von da an gab ich mich neu in meine Lebenssituation hin: Kinder wickeln, versorgen, ein kleines Kita-Programm erstellen, einmal am Tag den Bazar auf- und abgehen, dabei die Kinder im Blick haben, sie leiten und prägen.

Ich merkte: Mit der Annahme dieser Überforderung kam ich wieder in die Freude hinein, auch in die Freude an unseren drei wunderbaren Kindern. Ich wusste: «Für diese Zeit mache ich jetzt das Beste draus. Ich darf daran wachsen. Jesus ist ja da.» Das gilt im deutschsprachigen Raum genauso wie in Nepal …

Auf die Einstellung kommt es an

Vielleicht wunderst du dich, dass ich fast nur Freudenräuber genannt habe, die mit unserem inneren Erleben oder unserer Haltung zu tun haben. Du denkst vielleicht, dass uns meistens ungünstige äussere Umstände oder andere Menschen die Freude rauben. 

Das mag auf den ersten Blick so erscheinen. Die Glücksforschung bestätigt etwas anderes. Äussere Verbesserungen, wie ein neues iPhone, beeinflussen die Stimmung zwar für eine Weile positiv, aber schon nach kurzer Zeit tritt eine Gewöhnung ein und die Sache wird nicht mehr als Quelle der Freude empfunden. Sie ist selbstverständlich geworden. Es sind vielmehr innere Haltungen und Einstellungen, die uns für die Freude stärken.

Das Gleiche gilt auch umgekehrt. So spricht Henri Nouwen in einem seiner Bücher davon: «Zwei Menschen kann ein und dasselbe Unglück treffen: Für den einen wird es zum Grund der Empörung und Verbitterung, für den anderen zum Anlass der Dankbarkeit. Die äusseren Umstände sind dieselben, aber das Reagieren auf sie ist völlig verschieden. Manche Leute macht das Älterwerden boshaft und missmutig, andere werden gelassen und gelöst, und sie entdecken den Humor der Lebensjahre. Dies bedeutet, dass eine unterschiedliche Wahl getroffen wurde: eine innere Wahl, eine Wahl des Herzens.» ²

Birgit Schilling ist Autorin, Supervisorin und Coach und lebt mit ihrem Mann Wolfgang in Köln. Mehr von ihr zum Thema Freude in ihrem neuen Buch: Freude, die bleibt – wie Gott unsere Herzen mit Glück erfüllt (R.Brockhaus). Ähnliche Impulse gibt es im Magazin AUFATMEN. Infos zum günstigen Jahresabogutschein des Magazins findest du hier.

Zum Thema:
Wie Kinder: «Wir sind für die Freude geschaffen»
Freude entdecken: Acht Tipps für mehr Freude im Alltag
Mitten aus dem Leben: Echte Lebensfreude entdecken 

Datum: 29.09.2025
Autor: Birgit Schilling
Quelle: Magazin Aufatmen 03/2025, SCM Bundes-Verlag

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