«Wir sind für die Freude geschaffen»
Birgit, warum bewegt dich das Thema «Freude» so sehr, dass du ein ganzes Buch darüber geschrieben hast?
Birgit Schilling: Die Themen meiner Bücher ergeben sich aus meinem persönlichen Leben und Glauben. In meinen letzten Büchern habe ich Reifungsprozesse des Lebens und Glaubens geteilt. Zum Beispiel: Wie kann ich Ballast, den ich im Laufe meiner Kindheit an Bord genommen habe, von Jesus erlösen lassen? Wie kann ich mich mit meinen Stärken und Unvollkommenheiten annehmen lernen und versöhnt mit mir leben? Wie kann ich wieder die werden, an die Gott dachte, als er mich schuf?
Diese Prozesse der Reifung und inneren Heilung waren anstrengend und schmerzhaft. Vor ein paar Jahren hatte ich dann ein Aha-Erlebnis. Mir ging auf: Letztlich geht es bei all diesen Wachstumsprozessen darum, Raum zu schaffen für erfülltes Leben, Glück und Freude, ja für Gott selbst. So ging ich den Fragen nach: Was verschüttet denn die Freude bei mir? Und was ist das Biotop, in dem Freude in meinem Leben aufblühen kann? Wie kann ich neu von Gottes Freude angesteckt werden? Die Fragen führten mich auf eine spannende Spur, gerade auch seit Beginn der Coronapandemie, wo mir, wie uns allen, im Aussen so viel Belastendes begegnete.
Du schreibst: «Die Grundlagenforschung zeigt, dass wir Menschen etwa dreissig bis fünfzig Duschen der Begeisterung am Tag brauchen, um psychisch gesund zu bleiben.» Wie soll man das jemals schaffen?
Als ich diesen Satz auf einer Tagung für Psychologen zum ersten Mal hörte, war ich darüber fassungslos und stellte mir die Frage, wie das denn bitteschön gehen soll. Doch inzwischen bin ich davon überzeugt, dass es stimmt. Wir alle brauchen jeden Tag viele Erfahrungen und Momente von Freude. Kleine Kinder erleben das. Sie können sich über alles Mögliche begeistern: Über die Pfütze, in die sie springen, über die winzige Ameise, die ihnen über den Weg läuft, über die Sandburg, die sie bauen, und über das freudige Gesicht der Eltern, das sie anstrahlt.
Wo aber ist die Begeisterung und Freude bei uns Erwachsenen geblieben, die wir als Zweijährige noch hatten? Und wie können wir die Freude zurückgewinnen und uns wieder begeistern lassen? Mir wurde klar: Freude ist kein Luxus für besonders Privilegierte oder freudig Veranlagte, sondern eine Notwendigkeit für uns alle. Ohne Freude verkümmern wir in unserem ganzen Dasein.
Und wie bindest du in all das deinen Glauben an Gott mit hinein?
Gott ist für mich Ursprung und Grund aller Freude. Wir sind für die Freude geschaffen, denn unser Schöpfergott ist der Ursprung aller Freude. Gott ist die Liebe und die Freude ist ein Teil dieser Liebe. Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist, die heilige Trinität, ist ein ewiges Sich-aneinander-Verschenken und Empfangen und Sich-übereinander-Freuen. Jenseits unserer Welt ist die ewige Welt, die von Ewigkeit zu Ewigkeit Freude ist und die in unsere Welt hier auf Erden hineinwirkt – unaufhörlich, sanft, zart und auf wundersame Weise – und in uns Menschen tiefe Freude auslöst. Die Widerstandskämpferin Corrie ten Boom sagte: «Gott selber ist voller Freude und er will uns damit anstecken.»
Birgit, mal ehrlich, wie soll denn das gehen?
Zum einen ist dieses von Gottes Freude angesteckt werden sicherlich ein Wachstumsprozess, den Gott schenkt und der doch ganz und gar nicht unabhängig von uns stattfindet. Manches geschieht im Verborgenen, in der Stille und Verbundenheit mit Jesus. Hier kann ich darauf achten, gute Rituale zu haben, die mich mit Gott und seiner Freude immer wieder verbinden. Weiterhin ist es wichtig, achtsam zu werden, im Hier und Jetzt zu sein, um die vielen Gelegenheiten, Freude zu erleben, auch wahrzunehmen. Wenn ich zur Achtsamkeit einen Zugang finde und diese Achtsamkeit dann noch mit dem Bewusstsein der Gegenwart Gottes verbinde, werde ich immer wieder Duschen der Begeisterung erleben. So erlebe ich es und beobachte es auch bei Menschen, die sich auf diesen Freude-Weg einlassen. Dabei ist es ganz individuell, wie sich die Freude bei uns zeigt. Bei mir als extrovertierter Mensch zeigt sich die Freude überschäumender als beispielsweise bei meinem eher introvertierten Mann. Und doch will die Freude gefühlt und im Körper gespürt werden. Sie wird einen Ausdruck finden, sodass man es auch von aussen beobachten kann. Leider haben viele von uns in unserer westlichen Kultur diese unwillkürlichen körperlichen Mitwirkungen von Freude im Laufe unseres Lebens gelernt zu unterdrücken, was sich ungünstig auf unsere erlebte Freude auswirkt. Das Wunderbare jedoch ist, dass wir es neu lernen können, «wie die Kinder zu werden», die für uns, wie Jesus sagt, Vorbilder sind.
Die Welt ist gerade voller Krisen. Und auch in unserem persönlichen Leben kämpfen wir häufig mit Ängsten und Sorgen. Was gibt dir in all diesen Herausforderungen trotzdem Grund zur Freude?
Die Freude am Leben und an Gott will inmitten von herausfordernden Zeiten Raum gewinnen. Machen wir uns doch einmal klar: Das Leben auf dieser Erde war zu den meisten Zeiten an den meisten Orten voller Krisen und Belastungen. Zur Zeit Jesu waren die Menschen mehrfach besteuert, von den Römern, von Herodes und der Tempelsteuer. Sie wurden unterdrückt und waren der Willkür der Herrschenden ausgeliefert. In diese Situation wurde das Neue Testament geschrieben. Dennoch ist immer wieder von der Freude die Rede. Und auch im Advent 1942 schrieb Dietrich Bonhoeffer folgende Zeilen: «Bei Gott wohnt die Freude und von ihm kommt sie herab ... Die Freude Gottes ist durch die Armut der Krippe und die Not des Kreuzes gegangen; darum ist sie unüberwindlich, unwiderleglich.» Inmitten von äusseren und inneren Belastungen dürfen wir uns nach der Freude ausstrecken.
Du sprichst in deinem Buch von acht Freudenräubern, die in unserem Leben aktiv sein können. Welcher Freudenräuber ist bei uns Frauen am meisten aktiv?
Ich beobachte, dass bei vielen von uns Frauen der Freudenräuber der Überverantwortlichkeit aktiv ist. Wir fühlen uns für alles Mögliche zuständig. Wenn wir jedoch zu viele Lasten tragen und vor allem die Lasten anderer Leute, die unserer Kinder, Eltern, Freundinnen oder von Leuten aus der Gemeinde, dann geht es uns gar nicht gut. Wenn ich eine ohnmächtige Schwere bei mir bemerke, frage ich mich, ob dieser Freudenräuber gerade mal wieder aktiv ist. Ich stelle mir die Frage nach der «Problem-Ownership». Wem gehört das Problem? Und wenn das Problem meinem Mann gehört oder meiner Freundin, dann kann ich zwar hier und da beistehen und einen Rat geben, doch ich sorge dafür, dass ich das Problem nicht «an Bord» nehme. Mir ist klar geworden, dass der Heilige Geist nur jedem selber Zuversicht und Kraft schenkt, dem anderen und auch mir selbst.
Warum ist es so bedeutsam, der Freude nachzugehen und wie geht Freude überhaupt?
Unsere Gehirne sind so gemacht, dass das Negative einen starken Eindruck hinterlässt und wie auf Leim kleben bleibt. Das Positive rutscht wie auf Teflon ab und wird schneller vergessen. Daraus folgt, dass wir uns an das Negative viel stärker erinnern als an das Positive. Wir bekommen einen völlig verzerrten Eindruck von der erlebten Wirklichkeit. Das bedeutet, dass wir unsere Aufmerksamkeit ganz bewusst für das Frohe, Positive und Schöne schärfen müssen, um eine realistische Sicht auf unser Leben bekommen.
Und wie kann das ganz konkret aussehen?
Um mich von Herzen zu freuen, ist es eine innere Notwendigkeit, dass ich aufmerksam und wach da bin, wo ich gerade bin. Also nicht in Gedanken, Plänen, Absichten, Sorgen entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Freude geschieht da, wo ich wach und gegenwärtig bin – voll da am Start, um das mitzuerleben, was im «Jetzt-Moment» gerade geschieht, in meinem Innern und im Aussen. In dieser Haltung werde ich am Tag immer mal wieder in die Freude gezogen werden: Ich freue mich über das Rotkehlchen, das auf dem Ast sitzend herrlich zwitschert. Ich freue mich über den Geschmack des Erdbeerkuchens, am Kuss meines Mannes, an dem Gefühl der Lebendigkeit in meinem Körper nach meiner Sporteinheit. Ich freue mich an einem inspirierenden Artikel in der Zeitschrift, am leckeren Essen. Diese Freuden nehme ich als innere Resonanz in mir wahr. Die Freude geschieht mir sozusagen. Sie ist mir geschenkt. Ich sage dann oft: Mein Herz hüpft. Und von meinem Herzen aus geht die Welle zu meinem Gesicht und ich lächele oder lache laut auf. Immer wieder. Viele Male am Tag. Das lässt mich in eine (meist) frohe Grundstimmung hineinwachsen. Immer wieder öffne ich dieses Geschehen auf Gott meinem Schöpfer hin, der uns Menschen so genial geschaffen hat. Und wenn ich dann noch einübe, von Moment zu Moment, so gut es geht, in und aus der Verbundenheit mit Jesus zu leben, so wie Jesus sagt: «Bleibet in mir und ich bleibe in euch» (Johannes Kapitel 15, Vers 4), dann wird Freude mehr als eine Emotion. Sie wird zunehmend eine Herzenshaltung, von der auch Paulus spricht: «Freut euch in dem Herrn allezeit» (Philipper Kapitel 4, Vers 4).
Welche Rolle spielt die Freude bei dem, was heute für so wichtig erachtet wird: Resilienz?
Freude ist in sich schon ein Riesengewinn. Unser Herz ist im Zustand der Freude leicht und froh. Darüber hinaus aber wirkt sich Freude auch langfristig positiv auf unser ganzes Leben aus. Freude verbessert unsere Widerstandskraft (Resilienz), stärkt unsere Kreativität und Intelligenzleistung und lässt uns Probleme leichter lösen. Freude hat einen positiven Einfluss auf unsere körperliche Gesundheit, mildert Stressreaktionen und hilft, Stress rasch abzubauen. Freude begünstigt den Aufbau und die Pflege von Freundschaften, die uns stärken und in Krisenzeiten stützen.
Nächsten Sonntag gibt Birgit Schilling an dieser Stelle noch acht Tipps, wie man die Freude ganz konkret zurückgewinnen kann. Sie ist Autorin, Supervisorin und Coach und lebt mit ihrem Mann in Köln. Ähnliche Impulse gibt es im Magazin JOYCE. Infos zum günstigen Jahresabogutschein des Magazins findest du hier.
Zum Buch:
Fontis - Freude, die bleibt
Zum Thema:
Den Glauben kennenlernen
Kindliche Ehrfurcht bewahren: Warum Jesus möchte, dass wir wie kleine Kinder sind
Mitten aus dem Leben: Echte Lebensfreude entdecken
Datum: 24.08.2025
Autor:
Birgit Schilling
Quelle:
Magazin Joyce 03/2025, SCM Bundes-Verlag