Arizona Juanita Dranes

Blinde Kirchenpianistin prägte Rock’n’Roll

Die blinde Sängerin beherrschte ihr Instrument.
Ein blindes Mädchen spielte 1896 in einer Kirche Rock’n’Roll und beeinflusste später grosse Musiker wie Janis Joplin. Sie war die erste Gospelpianistin mit Schallplattenaufnahmen. Ihr Wirken prägte die Gospel- und Rock’n’Roll-Traditionen nachhaltig.

Ihr Name ist Arizona Juanita Dranes: Sie ist die grösste, wildeste und erst noch blinde Gospelsängerin, von der die meisten wohl noch nie gehört haben. Sie nahm vor 100 Jahren nur eine handvoll Songs auf, bevor sie in Vergessenheit geriet. Jetzt ist es an der Zeit, sie wieder aufleben zu lassen: Vermutlich 1889 geboren, erhielt Arizona Dranes im Alter von sieben bis 23 Jahren eine klassische Gesangs- und Klavierausbildung. Im Alter von zehn Jahren spielte sie bereits Sonaten von Mozart, Beethoven und Chopin, aber auch moderne Kompositionen von Liszt und Rubinstein. Das erklärt, warum ihr Gesang so makellos und ihr Spiel so flüssig war. Arizona war von Geburt an blind, was sie aber nicht in ihrer Entwicklung hinderte. 

Im Sog der «Holy Rollers»

Nach ihrem Abschluss am «Institute for Deaf, Dumb and Blind Colored Youths» (Institut für taube, stumme und blinde farbige Jugendliche) in Austin (Texas) im Jahr 1912 kehrte Dranes in ihre Heimatstadt Sherman (Texas) zurück. Sie erlebte dort eine Bekehrung zu Jesus und schloss sich wohl 1922 der Pfingstkirche Church of God in Christ (COGIC), an. Man nannte diese Kirchen «Holy Rollers»: Sie glauben an das Sprechen in Zungen und daran, es als «freudigen Lärm» wirklich rauszulassen.

Arizona Dranes passte genau zu dieser Kirche: Dort entwickelte sie betend am Klavier, inspiriert vom Heiligen Geist, mit ungekünstelter Inbrunst das Spielen von «weltliche Stilen» wie Barrelhouse, Cakewalk, Honky Tonk, Ragtime und Boogie-Woogie, die den Rock 'n' Roll mitbegründet haben. Das hatte sie nicht in der Blindenschule gelernt. Sie setzte sich ans Klavier und verlor alle Hemmungen, während sie das Instrument vollständig beherrschte. So revolutionierte sie die Gospelmusik in den 1920er Jahren durch ihr raues Spiel und ihre durchdringende, wortgewandte Stimme.

Im Studio für «Testaufnahmen»

Arizona Dranes (Mitte) bei einem Auftritt

1926 kam die Nachricht nach Texas, dass OKeh Records in Chicago auf der Suche nach Talenten im Bereich der Kirchenmusik war. Reverend Samuel Crouch empfahl Arizona Dranes dem Leiter des Labels. Die 37-Jährige war blind, pleite und ein wenig misstrauisch, als sie im Juni 1926 den Zug von Texas nach Chicago nahm. Es gab keine Gewissheit, dass aus der Reise etwas werden würde. OKeh teilte ihr mit, dass sie Testaufnahmen machten, ohne die Garantie, sie zum Verkauf freizugeben. Noch nie zuvor hatte jemand eine Gospelplatte mit Klavier aufgenommen. Und kein Label hatte bis dahin versucht, die rauen, geheiligten Klänge der Pfingstkirche auf den Markt zu bringen.

Arizona Dranes setzte sich ans Klavier und nahm an diesem Tag sechs Lieder auf, die später als «Gospel Beat» bekannt wurden. Weder Jazz noch Gospel waren je wieder dieselben. «Es war wahrscheinlich so, als würde man Jimi Hendrix zum ersten Mal hören. So etwas gab es vorher nicht», sagte der Musikschriftsteller Michael Corcoran dem Online-Magazin NPR. Im Studio trieben sich Hände von Arizona Dranes gegenseitig an, wobei die perkussive Linke – die Rhythmusgruppe – wie ein Jazzbassist auf und um den Beat tanzte, während ihre Rechte Oktaven improvisierte und synkopische Motive neben der Melodie laufen liess. Die Testaufnahmen waren so gut, dass sie gleich veröffentlicht wurden. Als sie diese ersten bahnbrechenden Aufnahmen machte, war sie kein junges, primitives Energiebündel. Sie spielte bereits seit 30 Jahren Klavier. Am Vortrag machten im gleichen Studio Louis Armstrong and His Hot Five Aufnahmen. 

Zurückgezogen gestorben

Jede der drei Platten von Arizona Dranes verkauften sich etwa 10’000 Mal. Das war beeindruckend für die damalige Zeit. Nach 1928 nahm Dranes keine Schallplatte mehr auf und gab nur noch selten öffentliche Konzerte. Wer in den 1920er bis 1940er Jahren nicht Mitglied einer schwarzen Pfingstkirche war, hatte kaum eine Chance, jemals einen Auftritt von Arizona Dranes zu erleben. In einem Interview von 2003 erinnerte sich die 90-jährige Helen Davis daran, dass sie Arizona Dranes in den 1920er Jahren in der Kirche von Page in Oklahoma City gesehen hatte: «Sie brachte den ganzen Ort zum Schreien. Sie war eine blinde Frau und liess sich vom Heiligen Geist überwältigen. Sie sprang von der Klavierbank auf, wenn sie vom Heiligen Geist ergriffen wurde.»

Ihr letzter bekannter öffentlicher Auftritt war 1947 in Cleveland, als sie als «Famous Blind Piano Player From Chicago» angekündigt wurde. Im Alter von 74 Jahren befand sie sich in einer Einrichtung für betreutes Wohnen in Kalifornien, als sie einen Schlaganfall erlitt, der ihr Leben 1963 beendete. Sie war nie verheiratet und übte zum Zeitpunkt ihres Todes den Beruf einer Missionarin aus. Es gab keinen Nachruf auf sie. Nichts in den Zeitungen über die erste bekannte Gospelpianistin, die die reiche Tradition der Pianistinnen in diesem Bereich als Vermächtnis beanspruchen konnte. Als Bindeglied zwischen den «Negro Spirituals» und dem christlichen Blues des Chicago der 1930er und 40er Jahre erzählten Arizona Dranes und ihr Klavier eine Geschichte. Die Geschichte ihres Herrn und Erlösers. 

Musikalische Innovation der Kirchen

Bis Anfang 20. Jahrhundert wurde in den Kirchen praktisch nur A-Capella gesungen. Arizona Dranes war der erste musikalischer Star der Church of God in Christ (COGIC). Die Pfingstgemeinde führte in einer Ära der Assimilation Instrumente, Tanz und polyrhythmische Handclaps in die schwarze Kirche ein. «Ohne die Pfingstbewegung würden weder Blues noch Rock’n’Roll in der heutigen Form existieren. Die Aussage mag verrückt erscheinen, beruht aber nun mal auf Tatsachen», erklärt der Innerschweizer Blueser Richard Köchli in seinem Buch «Holy Blues» und ergänzt: «Im Vergleich zur Energie und dem Feuer von Arizona Dranes waren die Rock'n'Roll-Jungs 30 Jahre später Sonntagsschüler.» Dieses Erbe könnte die Kirchen auch heute zu musikalischen Innovationen inspirieren.

Dieser Beitrag erschien bei Dienstagsmail.

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Datum: 23.05.2024
Autor: Markus Baumgartner
Quelle: Dienstagsmail

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