Schritt für Schritt

Israeli und Palästinenser miteinander in der Wüste

Was haben Sanddünen, Kamele, Ginster, rote Felsen und sternenübersäter Wüstenhimmel mit Versöhnung zu tun? Sehr viel, wissen die Israeli und Palästinenser, die einander fernab der Frontlinien begegnet sind. Sie folgten der Einladung von Musalaha zu einem Wüstentrip. Von den Strapazen des letzten Trips berichtet der erfahrene Wüstenwanderer Evan Thomas:
Schritt für Schritt
Israeli und Palästina
In der Wüste
Evan Thomas ist Pastor der messianischen Gemeinde Beit Asaph in Netanya und Mitglied des Musalaha-Komitees.

…Der nächste Tag brachte uns zwölf Stunden der anstrengendsten Wanderung, die ich je gemacht habe. Wegen eines Knorpelrisses im linken Knie (der im November operiert werden soll) schmerzte am Ende des Tages jeder Schritt. Die schwierigste Lektion des Tages war ein verstauchtes Fussgelenk bei einem unserer älteren Teilnehmer. In diesem Gelände konnten wir ihn nicht tragen und wir hatten keine andere Möglichkeit, als weiterzugehen. Wir haben für ihn gebetet, sein Fussgelenk fest bandagiert und setzten ihn an die Spitze unserer Gruppe, direkt hinter den Beduinen, mit je einem starken Bruder vor und hinter ihm. Wir alle mussten sein Tempo mitgehen und bei jedem Schritt auf ihn achten. Hier hat der Herr uns gezeigt, was es bedeutet, dass seine Stärke in der Schwachheit zur Vollendung kommt. Und wir haben gelernt, was es heisst, aufeinander Acht zu haben und mitzufühlen.

Am dritten Tag blieben wir die meiste Zeit in einem der wunderschönen Berggärten und „leckten unsere Wunden“. Um die Mittagszeit haben wir alle Teilnehmer hinausgeschickt, damit sie zwei Stunden allein sein sollten: Sie sollten mit niemandem zusammensein und auch keinen anderen aus der Gruppe sehen können. Das habe ich inzwischen mehrfach gemacht und frage mich jedes Mal hinterher, warum ich es nicht regelmässiger tue – es ist eine so fruchtbare Zeit.

Flut von Tränen

Als wir wieder zusammenkamen, um uns über diese Zeit mit dem Herrn auszutauschen, kamen einige der Beduinen dazu und hörten den arabischen Zeugnissen aufmerksam zu. Ein anderer Führer kam auch ins Camp und hörte zu. Er war sichtlich berührt, und einer der palästinensischen Teilnehmer stand auf und umarmte ihn. In einer Flut von Tränen und mit grosser Freude übergab er dort, im abgelegensten Teil des Sinais, wo unsere Väter das Wort Gottes empfangen hatten und zu einem Volk wurden, sein Leben dem Herrn.

Am vierten Tag durchquerten wir die Gegenden, in der Elia sich auf der Flucht vor Isebel unter dem Ginster verbarg und sterben wollte, und in der Mirjam, die Schwester des Mose, aus dem Lager ausgestossen wurde, weil sie gegen ihren Bruder rebelliert hatte. Wir lasen die entsprechenden Textstellen und stellten sie uns vor. Wo gibt es eine Szenerie wie den Sinai? Als wir in der Nacht im Mondschein eine grosse Sandebene überquerten und danach noch einen Gebirgspass, liess ich mein Kamel einfach laufen – dieses Gefühl von Begeisterung, wilder Freiheit und der Nähe Gottes kann man einfach nicht beschreiben!

Was uns die Wüste nimmt

Die Wüste nimmt uns allmählich unser Ich, unsere Vorwände und unsere Selbstbezogenheit, unsere Selbstsicherheit und Unabhängigkeit. Dadurch bringt sie uns in Beziehung miteinander. Menschen, die durch Jahre des Konflikts verletzt und verwundet sind, gelähmt und ohne Hoffnung auf Veränderung, mit fixen Meinungen und Loyalitäten, begegnen einander an diesem Ort grösster Verletzlichkeit.

In der Vergangenheit sind Israeli und Palästinenser, wenn sie sich begegnet sind, gleich zu politischen und theologischen Diskussionen übergegangen, die dann emotional sehr geladen waren. Man nahm an, dass, wenn man die Menschen dazu bringt, über die Probleme zu reden, sie ihre Konflikte lösen können. Das hat sich als ineffektiv erwiesen. Die ganze Komplexität des Konflikts ist im Gespräch gegenwärtig. Die Realität ist so, dass es ein Ungleichgewicht der Macht gibt, und das wird in die Begegnungen mitgebracht. Am Diskussionstisch bringen die Menschen ihre Geschichte, ihre Identität, ihre Positionen der Stärke oder Schwäche mit. Und so kommen auch Beleidigungen und Verteufelungen mit in die Gesprächsrunde und führen zu verletzenden Kommentaren, die der Botschaft des Psalmisten widersprechen, der sagt: „Wie gut und wie lieblich ist es, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen“ (Psalm 133).

Rücksicht, Achtsamkeit, Vertrauen

Die Wüste ermöglicht einen anderen Anfang. Als Erstes lernen wir, einander anders zu sehen. Langsam, beim Wandern, sind die Leute in der Lage, über Dinge zu reden, über die zu reden schwierig ist, und sie können im Lauf der Tage beginnen zu vertrauen. Wenn Beziehungen wachsen, bekommen wir abends am Lagerfeuer oder beim Wandern in den Felsen die Geschichten der anderen zu hören. Die, die eigentlich unsere Feinde wären, haben jetzt einen Namen, und ihre eigene Geschichte und ihre Probleme werden persönlich. So wird es schwieriger, den Kummer des anderen zu ignorieren oder seinen Schmerz zu übersehen. Obwohl manche Geschichte auch schwer anzuhören ist!

Während einer Wanderung oder eines Kamelritts durch die Wüste erlebt die Gruppe sehr direkt, wie wichtig Einheit ist. Wenn wir nicht zusammenbleiben, werden wir nicht überleben. Im alltäglichen Umfeld lebt jeder mit eigenen Zielen und Absichten – manche davon sind gut, andere selbstsüchtig. Die Wüste zwingt uns, das gemeinsame Ziel und gemeinsame Bedürfnisse zu erkennen. Durch einen solchen Prozess werden wir in Wahrheit zusammengefügt, wie es Paulus schreibt: „In ihm zusammengefügt, wächst der ganze Bau zu einem heiligen Tempel im Herrn, in ihm werdet auch ihr mitauferbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist“ (Eph. 2,22).

Datum: 19.08.2006

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