Der Grossandrang zum Anlass, organisiert von der „Interessengemeinschaft Kindgerechte Schule“, zeigte, dass die Frage vielen unter den Nägeln brennt. Im überfüllten Auditorium begründeten die Podiumsteilnehmer acht provokante Thesen, welche die aktuellen Schulreformen zum Teil heftig hinterfragten. Für den Kinder- und Jugendpsychologen Allan Guggenbühl greifen viele Reformen und Konzepte nicht, weil es im Alltag nicht gelinge, die Kinder auf der Beziehungsebene abzuholen. Der Aufbau von Beziehungen brauche Zeit und auch Raum, um Konflikte auszutragen. Aber nur wenn die Beziehung der Lehrperson zum Kind stimme, stelle sich auch der Lernerfolg ein, so Guggenbühl. Das Problem im heutigen Schulalltag sei, dass für viele Kinder und Jugendliche unklar sei, wer eigentlich ihre Ansprechperson ist. Guggenbühl verwies auch auf die Bedeutung des Schweizerdeutschen, das jetzt in der Volksschule zurückgedrängt wird. Es sei die Identifikationssprache. „Man integriert sich nur in der Identifikationssprache“, betonte der Jugendpsychologe. Der Kinderarzt und Buchautor Remo Largo kritisierte die Tendenz, als Antwort auf die Pisa-Studien immer mehr Gewicht auf die Leistungen zu legen. Er schlug vor, mehr Wert auf die Qualität des Lernprozesses zu legen, bei dem auch die Beziehungen eine grosse Rolle spielten. „Weshalb verlieren so viele Kinder die Begeisterung für die Schule schon nach der ersten Klasse?“ fragte Largo. Er sprach sich kritisch gegen Frühenglisch aus und gegen den Abbau von Fächern wie Musik und Turnen. Gegen den Nutzen von Frühenglisch nahm auch der Pädagoge Urs Kalberer Stellung. Seine Skepsis unterlegte er mit eigenen Studien, welche zeigten, dass mit insgesamt weniger Lektionen, die aber konzentrierter in einem späteren Stadium erteilt würden, mehr Lernerfolg erzielt werde. Er beklagte sich, dass seine Studien von den Erziehungsdirektionen ignoriert würden. Kalberer kritisierte auch den fehlenden Praxisbezug der „Theoretiker“ an den Pädagogischen Hochschulen. Die Lehrkräfte sollten sich „von der unseligen Abhängigkeit von den Theoretikern befreien“. Die Lehrerweiterbildungsangebote kritisierte er als konzeptlos. Sie würden ausserdem zunehmend als Machtmittel eingesetzt, um den Lehrkräften ideologisch begründete Konzepte aufzuzwingen. Für den Nutzen und Erhalt der Volksschule plädierte dagegen Fritz Osterwalder, Pädagogikprofessor an der Universität Bern. Die Schweizer Volksschule sei ein Erfolgsmodell, sie dürfe aber nicht überfordert werden, so Osterwalder. Er warnte vor zu vielen Institutionen und Gremien, die letztlich der Schule Mittel entziehen. Sie dürfe nicht Instrument von Spezialisten und Verwaltern werden. In der Schweiz sei die Gefahr geringer, da viel Arbeit lokal von Milizgremien geleistet werde. Die Erziehung der Kinder dürfe aber nicht allein der Volksschule überlasen werden, auch Eltern und weitere Institutionen müssten sich daran beteiligen. Während Osterwalder betonte, die Schule könne nicht alle Sozialisierungswünsche erfüllen, fragte Remo Largo: „Die Familie schafft es nicht mehr, wer tut es dann?“ Überfordert seien vor allem alleinerziehende Eltern, die den Anforderungen nicht gerecht werden könnten. Dagegen würden die Kinder 10.000 Stunden in der Schule verbringen, und dort passiere ein Sozialisierungsprozess. Die Frage stelle sich aber, WIE er geschehe. Kritisch beobachtet Largo, dass die heutige Schule die Mädchen bevorzugt: „Die Schule wird den Knaben nicht mehr gerecht, das muss sich ändern, damit die Knaben auch eine Chance haben“, so Largo. Heute gebe es 60% Mittelschülerinnen und nur 40% -schüler. Ein unhaltbarer Zustand. Eine der Ursachen dazu sieht Allan Guggenbühl in den Bewertungssystemen. In sozialer Kompetenz schnitten zum Beispiel die Mädchen besser ab, weil sie sich leichter den Kriterien anpassten, während männliche Jugendliche die Konfrontation liebten. Die Definition von Sozialkompetenz in der Schule müsse daher viel breiter gefasst werden. Heute sei sie schlicht weltfremd.
Datum: 04.09.2008
Quelle: SSF