Befreiende Botschaft der Bibel

Freiheit gibt es nur im Plural

Freiheit als individuelle Erscheinung, die erst einmal nur mich betrifft, ist eine «Erfindung» der Neuzeit. Spannenderweise geht es bei den biblischen Vorkommen von Freiheit um Gruppen und Gemeinschaften: Freiheit gibt es nur im Plural.
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Es gibt Begriffe, die existieren praktisch nur in der Einzahl: «Laub» zum Beispiel. Läube gibt es nicht. Genauso «Milch», «Gemüse», «Hitze», «Übelkeit». Die Grammatik nennt dieses Phänomen Singularetantum. Eigentlich gilt das auch für «Freiheit», doch die Freiheit, von der in der Bibel die Rede ist, gibt es eigentlich nur in der Mehrzahl. Nicht als grammatikalische Freiheiten, aber als Freiheit für viele.

Die Idee, gemeinsam frei zu sein

In unseren Kirchen und Gemeinden stellen wir Glauben und die daraus resultierende Freiheit meist als etwas sehr Individuelles dar. Der Start, die sogenannte Bekehrung, ist eine Einzelfallentscheidung, eine sehr persönliche Sache. Wenn bei einer evangelistischen Veranstaltung dazu aufgerufen wird, dann singt der Chor: «Sag nicht nein, Gott ruft auch dich…» und der Evangelist unterstreicht: «Du bist gemeint. Gerade du. Komm zu Jesus.»

Es ist völlig legitim, Menschen so an ihre persönliche Verantwortung zu erinnern – allerdings ist es nicht das gesamte Bild. Denn wenn die Bibel zu Freiheit aufruft, tut sie das praktisch immer im Plural. Paulus schreibt: «So steht nun fest in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat, und lasst euch nicht wieder in ein Joch der Knechtschaft spannen!» (Galater Kapitel 5, Vers 1). Diese und weitere Stellen stehen zwar in Briefen, in denen er sich hauptsächlich an Gruppen wendet, doch auch Jesus selbst unterstreicht: «Wenn euch nun der Sohn frei machen wird, so seid ihr wirklich frei» (Johannes Kapitel 8, Vers 36).

Es scheint typisch zu sein, dass wir heute solche Verse so verstehen, als stünde dort «du», aber entstanden sind sie in einer Zeit und Umgebung, die eine Gemeinschafts- und Familienkultur war – keine individualistische Moderne wie bei uns. Und viele Berichte der Bibel scheinen diesen pluralen Gedanken zu unterstützen.

Der Auftrag, gemeinsam frei zu sein

«Niemand ist frei, solange es nicht alle sind», meinte der Philosoph Jürgen Habermas. Praktisch wird diese Haltung in einem ganzen Buch der Bibel: bei Ester (hier gibt es einen guten Gesamtüberblick zum Buch).

Nachdem der persische Königs Artaxerxes seine Frau in die Wüste geschickt hat, will er wieder heiraten. Darauf werden die schönsten jungen Frauen im Reich in seinen Harem geholt und nacheinander zu ihm gebracht, damit er sich eine neue Königin aussuchen kann. Eine der Frauen ist Ester, die Pflegetochter Mordechais, eine Jüdin. Es ist wie im Märchen: Ester wird Königin, doch der König weiss nichts von ihrer Herkunft. Als ein hoher Hofbeamter, Haman, die systematische Verfolgung und Vernichtung der Juden anordnet, gerät sie in Gewissenskonflikte. Ihr wird nichts passieren, doch was ist mit Mordechai, was mit ihrem Volk? Als Frau hat sie dem König nichts zu sagen, ja, sie darf nicht einmal eigenmächtig zu ihm gehen. Mordechai fordert sie heraus: «Wer weiss, ob du nicht gerade wegen einer Zeit wie dieser zum Königtum gekommen bist?» (Ester Kapitel 4, Vers 14) Ester zögert. Sie weiss, dass es ihr Leben kosten kann, aber sie realisiert den Auftrag, gemeinsam frei zu sein, und geht zum König. «Komme ich um, so komme ich um!», sagt sie (Vers 16).

Kleiner Spoiler: Die Geschichte geht gut aus. Aber Ester unterstrich durch ihr Leben den Auftrag, gemeinsam frei zu sein. Dasselbe taten noch viele andere Menschen. Manche wurden dadurch berühmt, andere haben wir vergessen, wie zum Beispiel Josephine Butler, eine frühe christliche Feministin, die sich unter anderem für die Rechte von Prostituierten einsetzte (siehe Livenet-Artikel).

Solch ein Einsatz für die Freiheit anderer kann viele Gesichter haben: Engagement für Geflüchtete, Hilfe für Notleidende oder Mission bei Menschen, die Gott noch nicht kennen. Das kann eine wirkliche Last sein. Aber Jürgen Habermas hat recht, wenn er sagt: «Niemand ist frei, solange es nicht alle sind.»

Das Glück, gemeinsam frei zu sein

Neben einer manchmal anstrengenden Aufgabe kann diese gemeinsame Freiheit auch ein echtes Glück sein. Paulus und Silas erlebten das auf der zweiten Missionsreise, wo sie zuerst nach Europa vordrangen. In Philippi in Griechenland gründeten sie bei Lydia eine Hausgemeinde. Als sie danach eine besessene Sklavin heilten, wurden sie verhaftet (Apostelgeschichte Kapitel 16). Im Gefängnis hätten sie zwar Trübsal blasen können, entschieden sich aber für das Singen von Lobliedern. Währenddessen suchte eines der häufigen Erdbeben die Region heim, aber nicht die Decke fiel ein, sondern nur die Türen sprangen auf. Dem Gefangenenaufseher war direkt klar, dass seine «Schützlinge» weg sein mussten. Er wollte sich das Leben nehmen, bevor er dafür zur Rechenschaft gezogen wurde, als er durch die offene Tür hörte: «Tu dir kein Leid an; denn wir sind alle hier!» (Vers 28) Alle waren noch da. Sangen sie noch? Hielten sie eine Bibelstunde ab? Assen sie etwas? Wir wissen es nicht. Aber wir wissen, dass sich der Gefangenenaufseher mit seiner ganzen Familie von dieser Freiheit anstecken liess.

Manchmal reicht es eben nicht, selbst frei zu sein. Da ist man so glücklich, dass andere dasselbe erleben sollen. Paulus teilte sein Glück gern mit den anderen Gefangenen und auch mit dem Gefängnisaufseher.

Können wir in solchen Kategorien denken – und glauben? Dass Gottes Angebot von Freiheit sich ans «uns» richtet – und nicht an mich? Dass es nur in dem Masse Freiheit ist, in dem auch andere daran teilhaben? Brauchen wir es, dass andere frei sind, damit wir unsere Freiheit leben können? Freiheit gibt es nur im Plural.

Zum Thema:
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Datum: 20.05.2021
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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