Schweigemärsche

Ist der Westen auf einem Auge blind?

Die Schweigemärsche in Frankreich waren eindrücklich. Aber das Mitgefühl muss in Zukunft auch die Terroropfer in Afrika und im Nahen Osten erreichen.
Der Schweigemarsch in Paris.
Die Leute strömten in Paris auf die Strasse.

Imposant war der grosse Schweigemarsch von Paris, angeführt von rund 50 Regierungschefs, inklusive dem israelischen Ministerpräsidenten Netanyahu und Palästinenserpräsident Abbas. Und wenigstens einem Afrikaner, dem Präsidenten von Mali, der sich damit auch für die französische Militärintervention erkenntlich zeigte.

Eindrücklich, wie ein westliches Land nach den Terroranschlägen die Empathie der Volksmassen und der Regierungen anderer Länder weckte. Ein eindrückliches Zeichen, dass Terror nicht zum Alltag werden darf und dass westliche Werte auch gegen Hass und Gewalt verteidigt werden sollen. Insbesondere die Meinungsäusserungsfreiheit wurde von Regierungschefs und Medienleuten als höchstes Gut proklamiert.

Nachdenkliches

Zwei wichtige Dinge gingen allerdings bei den eindrücklichen Kundgebungen, die auch in andern Ländern stattfanden, unter. Auch im Westen ist die Meinungsäusserungsfreiheit nicht absolut, auch wenn sie gerade im Blick auf die Verletzung religiöser Überzeugungen immer wieder als Recht eingefordert wurde. Auch der Westen kennt seine Tabus: So werden Rassismus und Antisemitismus klar als Grenzen hochgehalten. Oder neuerdings sexuelle Identität. Dass man Jesus oder Mohammed verächtlich darstellen und damit die beiden Glaubensgemeinschaften verletzen darf, lehnt bislang erst eine Minderheit der Meinungsmacher ab. Hier muss vor allem Europa über die Bücher.

Zweitens, wenn Menschen in Europa von Terroristen umgebracht werden, hat dies offenkundig einen ganz andern Stellenwert, als wenn dies in Nigeria oder Syrien geschieht. Wenn Boko Haram ganze Dörfer und gar Städte niederbrennt und die Menschen hinmetzelt, ist das meinst nicht mehr als eine Meldung wert. Oder wenn im Irak Christen verfolgt, umgebracht und vertrieben werden. Es gibt dazu im besten Fall kleine Schweigemärsche, die durch kirchliche Werke organisiert werden. Gelten diese Opfer in der globalisierten Welt so viel weniger als die Zeichner bei Charlie Hebdo? Weil sie oft namenlos sind? Oder weil die Morde weiter weg geschehen?

Fragen, welche sich die westliche Gesellschaft stellen muss. Wenn sie bei ihrem Nein zum Terror glaubwürdig sein will, muss es auch Schweigemärsche gegen das Wüten islamistischer Extremisten in Nahost und Afrika geben. Und: Sie muss sich neu bewusst machen, dass Freiheit immer mit Verantwortung – und Rücksicht – verbunden ist.

Datum: 12.01.2015
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet

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