Anders als das Klischee

Glaube in den USA abnehmend

In vielen Bereichen verstehen sich die USA als führende Nation. Auch in Glaubensfragen haben sie aus- oder unausgesprochen die Position einer christlichen Leitkultur inne. Zahlreiche christliche Impulse kommen von ihnen – und werden von ihnen auch erwartet. Dabei gibt es allerdings ein grosses Problem, denn die Glaubenssubstanz der USA zerfällt.
Erfolg misst sich nicht an Zahlen und Grösse (Bild: Lakewood Church mit durchschnittlich 43'500 Besuchern; Quelle: theoldblackchurch.blogspot.com)

Wie religiös die Vereinigten Staaten tatsächlich sind, untersuchte der Kirchenhistoriker Professor Dr. Gerhard Besier aus Dresden, der seit kurzem an der US-Universität Stanford lehrt. Für das evangelische Nachrichtenmagazin Idea nahm er den Mythos der hohen Religiosität in den USA unter die Lupe, stellte aber klar, dass diese mit der aktuellen Realität nur noch wenig zu tun hat.

Evangelikale auf dem Rückzug

Bereits 2012 stellte das Meinungsforschungsinstitut «Pew Forum» fest, dass der jahrhundertelang dominierende Protestantismus in den USA eine immer geringere Rolle spielt. Anders als das fromme Klischee nahelegt, gehören weniger als die Hälfte der rund 316 Millionen US-Amerikaner noch irgendeiner evangelischen Kirche an. Jeder fünfte Einwohner empfindet sich bereits als religionslos. Bei den 18-22-Jährigen glaubt nur noch ein knappes Drittel an Gott, Tendenz abnehmend. Diese Menschen ohne religiöse Bindung sind laut Umfrage jung, liberal, gebildet, weiss und verdienen überdurchschnittlich gut.

Doch nicht nur hier erleben Christen drastische Rückgänge. Auch im klassischen Bibelgürtel im Süden mit seiner konservativ geprägten Bevölkerung vermelden Süd-Baptisten und andere Denominationen herbe Verluste. Etwas resistenter gegen den Mitgliederschwund scheinen die weniger gebildeten schwarzen Protestanten und die Katholiken zu sein.

Vielfältige Ursachen

Professor Besier merkt an, dass die USA gesellschaftlich viel stärker aufgesplittet und zerklüftet sind als Europa. Gerade der nicht annähernd gleiche Bildungsstand spielt eine wichtige Rolle: Selbst zentrales Wissen zur eigenen Glaubensgeschichte ist nicht selbstverständlich. Nicht einmal jeder zweite Protestant wusste etwas von der Reformation und dass sie auf Martin Luther zurückgeht. Gleichzeitig erhöht Bildungsferne die Kirchennähe, weil Sozialarbeit, Kinderbetreuung, Kleidervergabe, Suppenküchen und ähnliches in den USA rein kirchliche Angebote sind. Der Staat hat damit kaum etwas zu tun.

Eine weitere Ursache ist so etwas wie fehlende Kontinuität. Schnell ist in den Vereinigten Staaten eine neue Kirche oder Gemeinde gegründet. Auflagen gibt es nur wenige. Ein charismatischer Leiter kann denn auch für rasantes Wachstum sorgen – und bei Enttäuschung für einen ebenso schnellen Absturz. Jüngstes Beispiel ist der Fall von Mark Driscoll, der über seinen autoritären Führungsanspruch gestolpert ist. Nach solchen Skandalen verlassen viele ihre Kirche oder Glaubensrichtung und suchen nach einer neuen religiösen Heimat. Dort beginnt der Kreislauf von zu grossen Erwartungen bis zur Ernüchterung erneut.

Emotionen in den USA, Verstand in Europa

Die meisten weniger gut gebildeten Amerikaner erwarten von ihrer Kirche etwas ganz anderes als Christen in Europa: In den USA suchen sie emotionale Erlebnisse, einen Ort, an dem sie ihre Alltagssorgen für einen Moment vergessen können, wo die raue Wirklichkeit keine Rolle mehr spielt. Hier erleben sie Gott. In Europa ist ein intellektuell geprägter, durchdachter Glaube wichtiger. Es passiert zwar immer wieder, dass Predigten zu akademischen Vorträgen werden, doch gibt der verstandesgemäss fundierte Glaube eine solidere Basis für die europäischen Kirchenbesucher.

Das Märchen vom messbaren Erfolg

Anders als beim landeskirchlichen System oder einer solidarischen Unterstützung von Kirche trotz weit verbreitetem Atheismus wie in Dänemark muss Kirche in den USA unmittelbar und immer Erfolg haben. Ohne Erfolg kein Geld. Ohne Geld keine Zukunft. Jede Gemeinde oder Glaubensrichtung steht vor diesen Sachzwängen und muss ihnen die konkrete Arbeit unterordnen.

Ähnliches gilt für kirchlichen Lobbyismus oder Netzwerkarbeit. Pastoren und Theologen suchen den Kontakt zu Politik, Universitäten und Wirtschaft. Sie laden zu Gottesdiensten, Gesprächen und Mittagessen ein. Theologische Sachfragen spielen laut Professor Besier bei solchen Treffen keine Rolle, es geht um die Herstellung atmosphärischer Wärme, Meinungsaustausch – und um Fragen zur Spendenbereitschaft. Das kirchliche Leben in den USA ist hier sehr klar funktionsbestimmt. Alles muss ein Ziel haben, das möglichst rasch zu erreichen ist.

Amerika ist anders, Europa auch

Und die Moral der Geschicht'? Besiers nüchterner Blick hinter die amerikanischen Kulissen ist sehr hilfreich, um Initiativen wie «Willow Creek» besser verstehen zu können. Oder zu begreifen, wie international (sprich amerikanisch) geprägte Missionsgesellschaften ticken. Hierbei geht es nicht darum, die USA schlechtzumachen. In Deutschland und der Schweiz haben wir jahrzehntelang von herzlichen, wohlmeinenden Christen und ihren Organisationen dort profitiert. Es geht vielmehr darum, neu zu verstehen, dass wir US-Konzepte eben nicht für Europa anwenden können. Dass wir uns in Zukunft immer weniger auf Personen oder Gelder aus den USA verlassen können. Dass wir gefordert sind, auf eigenen Füssen zu stehen.

Datum: 12.02.2015
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / idea

Werbung
Livenet Service
Werbung