Wenn andere über den Patienten verfügen müssen

Ruth Baumann-Hölzle

Wer entscheidet, wann bei einem schwerkranken Menschen die lebenserhaltenden Maschinen abgestellt werden? Solche Entscheidungen über Leben und Tod sollten nicht in der Hand eines einzelnen Arztes liegen. Ruth Baumann Hölzle, Leiterin des Instituts „Dialog-Ethik“ in Zürich hat deshalb ein neues Modell entwickelt. Sie baut an Spitälern Teams auf, in denen Ärzte, Pflegepersonal, Seelsorger etc. gemeinsam solche Entscheidungen erarbeiten,
siehe: www.livenet.ch/www/index.php/D/article/156/11662 .
Am Rande einer Fachtagung für Mitglieder solcher „Ethik-Foren“ entstand das folgende Gespräch mit der Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle, Leiterin des Interdisziplinären Instituts für Ethik im Gesundheitswesen „Dialog-Ethik“ in Zürich.

Kipa: Es gibt in der Schweiz immer mehr Ethik-Foren an Spitälern und Kliniken. Ist die Ethik an diesen Orten bisher zu kurz gekommen?
Ruth Baumann-Hölzle: Ethik gehört grundsätzlich zum Handeln in Medizin und Pflege. Jedes Handeln ist mit ethischen Entscheiden verbunden und erfordert auch kritisches Nachdenken, über das, was getan werden soll. Nicht das medizinisch Machbare, sondern das medizinisch und pflegerische Sinnvolle soll getan werden. Das medizinische Können stellt uns damit tatsächlich vor eine neue ethische Herausforderung: Es muss in neuer Art und Weise zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten eine Wahl getroffen werden.

Hat das damit zu tun, dass die Medizin komplizierter geworden ist und dass es viele neue Möglichkeiten gibt, über Leben und Tod zu entscheiden?
Ja, wir können heute unter Umständen mehr, als einem Menschen angemessen ist. Die Patientin und der Patient haben darüber zu entscheiden, was für sie „angemessen“ heisst. Das klingt im ersten Moment plausibel, kann aber in der Realität sehr schwierig sein: Der Patient kann aus Angst vor seiner Krankheit manchmal die für seine Entscheidung wichtige Information gar nicht richtig aufnehmen; manchmal er ändert sein Meinung stündlich. Trotz diesen Schwierigkeiten sollen die Patienten aber die Rahmenbedingungen und Möglichkeiten erhalten, damit sie einen Entscheidungsfindungsprozess durchlaufen und einen selbstverantworteten Entscheid treffen können.

Es scheint schwieriger geworden zu sein, ethisches Handeln zu definieren...
Was heisst ethisch handeln? Ethik als Wissenschaft von der Moral kommt immer dann ins Spiel, wenn moralische Selbstverständlichkeiten zerbrochen sind. Angesichts des enormen Könnens der modernen Medizin und im Kontext der pluralistischen Gesellschaft ist es tatsächlich schwieriger geworden, welches Handeln einer Situation angemessen ist. Wichtig ist, dass der Anspruch auf Menschenwürde und damit verbunden auf Menschenrechte gewährleistet ist.

Ist es richtig, dass bislang in der medizinischen Ausbildung die Ethik unterentwickelt ist?
Ja, das stimmt, denn Ethik ist noch kein Pflichtfach für die angehenden Mediziner und Medizinerinnen. Bei den Pflegenden ist es anders, bei ihnen ist der Ethikunterricht schon lange integraler Bestandteil der Ausbildung.

Und das wirkt sich im heutigen Spitallalltag aus?
Die traditionelle Medizinethik war vorwiegend Tugendethik, bei der sich der Mediziner vor allem als integere Person auszuzeichnen hatte. Sein Handeln als solches hingegen war nicht begründungspflichtig. Dies ist heute anders, denn ein Mediziner oder eine Medizinerin soll begründen können, warum er oder sie einem Patienten diese und keine andere Therapie vorschlägt und durchführen will. Im Begründen ihrer Handlungen sind die Mediziner und Medizinerinnen heute noch zu wenig geschult. Dies führt deshalb immer wieder zum unreflektierten Einsatz aller lebenserhaltenden Mittel am Lebensende, wenn diese in einer gegebenen Situation unter Umständen nicht mehr angemessen sind. Umgekehrt lassen sich aber bereits neuere Tendenzen erkennen, bei denen gerade bei chronischkranken und sogenannt „austherapierten“ Patienten bestimmte Leistungen aus Kostengründen nicht mehr erbracht werden. Nur wenn das eigene Handeln stets hinterfragt wird, kommt es nicht zu solchen Entgleisungen, unter denen Menschen zu leiden haben.

Deshalb wurden offenbar in den letzten Jahren mehr „Ethik-Foren“ eingeführt. Sie haben vor allem in Zürich diesbezüglich Pionierarbeit geleistet.
Dialog Ethik betreibt im Raum Zürich so genannte Ethik-Foren am Universitätsspital, am Universitätskinderspital, am Stadtspital Triemli, an der Schweizerischen Epilepsieklinik am Diakoniewerk Neumünster-Schweizerische Pflegerinnenschule, am Kantonsspital Winterthur, am Kreisspital Männedorf und an der psychiatrischen Klinik Schlossthal in Winterthur. Mit dem Bezirkspital Affoltern am Albis verbindet uns eine andere Form der Zusammenarbeit mit regelmässigen Fallbesprechungen. Des weiteren gibt es ein Ethik-Forum am Kantonsspital Aarau und am Kantonsspital St. Gallen. Die psychiatrischen Kliniken Rheinau und das Psychiatriezentrum Schaffhausen betreiben gemeinsam ein Ethik-Forum. Innerhalb der einzelnen Kliniken sind die Ethik-Foren so organisiert, dass es neben der Kerngruppe des Ethik-Forums interdisziplinär zusammengesetzte Arbeitskreise und Arbeitsgruppe gibt. So arbeiten derzeit am Universitätsspital Zürich insgesamt 12 Arbeitsgruppen.

Inwieweit werden die Ethik-Foren von der Klinikleitung und der Ärzteschaft heute akzeptiert?
Die Klinikleitungen selbst sind heute kein Problem. Es gibt aber auch Leute, die Einmischung in ihre Arbeit fürchten. Die Widerstände kommen von Leuten, die überzeugt sind, dass sie ihre Arbeit bisher recht gemacht haben und dafür keine Unterstützung brauchen. Sie nehmen Ethik dann oft primär als Kritik statt als hilfreiche Unterstützung zur Problembewältigung wahr. Wir arbeiten daran, dass klinische Entscheide juristisch erst dann sauber abgestürzt sind, wenn sie transparente und verbindliche Entscheidungsverfahren durchlaufen haben. Mit solchen Verfahren sind auch die Behandlungsteams juristisch besser geschützt.

An der Tagung wurde betont, dass der Patient in der Mitte der Entscheidung stehen soll. Ist das oft nicht der Fall?
Juristisch gilt heute in der Schweiz jede medizinische Handlung als Körperverletzung. Durch die Einwilligung des Patienten wird zudem nur deren Widerrechtlichkeit, nicht jedoch der Tatbestand der Körperverletzung, aufgehoben. Im klinischen Alltag fehlen jedoch häufig die Rahmenbedingungen, wie z. B. Raum und Zeit, die es dem Patienten überhaupt ermöglichen, seinen Autonomieanspruch zu realisieren. Wie bereits erwähnt, gehen wir in unserem Modellen vom unverlierbaren Würdeanspruch jedes Menschen aus, der nicht mit Lebensqualität verwechselt werden darf. Es gilt, den Patienten die Wahrnehmung dieser unverlierbaren Würde gemäss den Umständen zu ermöglichen. Dazu gehört eben auch, dass er für seinen Entscheidungsfindungsprozess die hierfür notwendigen Rahmenbedingungen erhält.

Hinweis:
Dialog-Ethik bietet einen Nachdiplomkurs für Mitglieder von Ethik-Foren an: http://www.livenet.ch/www/index.php/D/article/180/11662/

www.dialog-ethik.ch

Datum: 17.12.2003
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Kipa

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