«Evangelikale» Erziehung

Studie relativiert Gewaltvorwürfe

Angeregt durch Presseberichte in Deutschland und einen krassen Fall von Kindsmisshandlung im Zürcher Oberländer Dorf Wila hat Infosekta eine Studie publiziert, welche Erziehungsratgeber aus dem evangelikalen Raum unter die Lupe nimmt und daraus Empfehlungen ableitet. Sie hat dazu mit der Stiftung Kinderschutz Schweiz zusammengearbeitet, deren Präsidentin SP-Nationalrätin Jacqueline Fehr ist.
Eltern im Gespräch mit Kind

Verschiedene «evangelikale» Erziehungsratgeber empfehlen laut der Studie rigide körperliche Züchtigungen und massiven psychischen Druck. Auslöser für den Bericht sei er aber nicht der schlagzeilenträchtige Fall aus dem Zürcher Oberländer Dorf Wila gewesen, betont Infosekta. Immer wieder würden Fälle an sie herangetragen. Aus diesem Grund habe sich die Fachstelle entschlossen, den Bericht zu erarbeiten, der am Freitag in verschiedenen Medien thematisiert wurde.

Die Organisation will mit dem 61-seitigen Bericht mit zahlreichen Literaturhinweisen nach eigenen Angaben die Diskussion in evangelikalen Kreisen anstossen, Eltern und Fachstellen Orientierungshilfen geben, sowie verhindern, dass Gemeinwesen aus Unwissenheit problematische Ratgeber anböten.

Keine pauschale Kritik

Viele «evangelikale» Eltern seien nicht sicher, wie sie ihre Kinder richtig erziehen sollten. Infosekta wolle daher solche Eltern auf empfehlenswerte evangelikale Ratgeber hinweisen, die es durchaus gebe. Projektleiterin Susanne Schaaf versucht gleichzeitig, Befürchtungen zu zerstreuen, dass man allen evangelikalen Eltern unterstelle, ihre Kinder unfair zu behandeln. Ausserdem hätten sich die Schweizerische Evangelische Allianz (SEA) und der Freikirchenverband VFG – Freikirchen Schweiz von der Züchtigung als Erziehungsmittel distanziert.

«Idealtypische Erziehungsgrundsätze»

Die Studie beschreibt vier «idealtypische Erziehungsgrundsätze» von «dogmatisch-machtorientiert» bis «autoritativ-partizipativ», die sie bei der Lektüre der Ratgeber und Sichtung von Erziehungskursen herauskristallisiert hat. Letzterer komme zum Beispiel in den Kursen «PEP for Kids» und «PEP for Teens» zum Ausdruck. Die entsprechenden Ratgeber sind im Brunnen Verlag erschienen und sind für Infosekta akzeptabel. Allerdings stellt die Studie auch hier «gewisse Widersprüche innerhalb des Erziehungskonzepts» fest. Alle andern Ratgeber werden als problematisch oder hochproblematisch eingestuft.

Eine Auflistung von Erziehungsratgebern, welche die Stiftung Kinderschutz Schweiz empfiehlt, sowie eine Empfehlung zu Elternkursen komplettieren den Bericht. Zu Wort kommen schliesslich der Zürcher Kinderarzt und Erziehungsfachmann Remo Largo sowie eine junge Frau, die in einer evangelikalen Gemeinschaft aufgewachsen ist.

Physische und psychische Gewalt

Noch offen sei «die Haltung der Verbände» zur psychischen Gewalt. Hier gebe es ein Spannungsfeld zwischen dem evangelikalen Dogma, wonach ein Kind von Natur aus sündig ist, und der gesellschaftlichen Forderung nach freier Entfaltung und Autonomie des Kindes. Sowohl die SEA wie der Verband VFG Freikirchen Schweiz haben allerdings auf Anfrage von Infosekta dazu Stellung genommen. Die Antworten sind auf der Webseite von Infosekta aufgeschaltet. Kritik findet auch die Vermittlung von restriktiven Normen im Bereich Sexualität. Das müsse auch in evangelikalen Kreisen thematisiert werden, fordert die Studienleiterin. Sie hat die beiden Verbände in dieser Frage aber nicht zur Stellungnahme gebeten.

Bedenklich wäre, wenn die Art, wie die Medien auf die Studie reagieren, zu einer neuen Evangelikalenhatz führen würden. Diese wird auch von Politikerinnen wie Jacqueline Fehr geschürt, die laut «Beobachter» den Bundesrat auffordern will, «die evangelikale Bewegung kritisch zu beobachten – gerade zum Schutz der betroffenen Kinder.» Eine Aufforderung, die sich eigentlich nach dem Lesen der Infosekta-Studie erübrigen würde.

Kommentar

Sachliche Studie – polemische Medien

Die Studie von Infosekta ist kein antievangelikales Pamphlet. Sie enthält viel Bedenkenswertes. Problematisch sind hingegen einige Medienberichte, die sie ausgelöst hat.

So wählt zum Beispiel die Wochenzeitschrift «Beobachter» schon in den Themenhinweisen den Titel «Die Strafe Gottes» und schreibt dann: «Evangelikale empfehlen die Prügelstrafe für Babys und Kleinkinder». Und im detaillieren Inhaltsverzeichnis heisst es: «’Prügle dein Kind, wenn du es liebst’, raten evangelikale Kreise.» Unterstrichen werden diese Aussagen durch suggestive Bilder. Auch wenn diese Zeilen vermutlich von einem Blattmacher stammen, der vom Thema wenig Ahnung hat, wurde hier schlechte Arbeit geleistet, die zur Ausgrenzung von bekennenden evangelischen Christen beiträgt. Die effektiv kritikwürdigen Ratgeberbücher, die hier angesprochen werden, stammen aus Amerika und werden in Deutschland verlegt. Von «evangelikalen Kreisen» zu sprechen ist schon deshalb kritikwürdig, weil sowohl die Schweizerische Evangelische Allianz (SEA) als auch der Freikirchenverband sich klar von Körperstrafen distanzieren.

Im Gegensatz zu früheren Ereignissen, bei denen namentlich Freikirchen im Zentrum der Kritik stiessen, bringt auch der «Beobachter» diesmal eine Stellungnahme eines Exponenten aus dem Kreis der Angeschossenen. Hansjörg Forster, Leiter des «Forums Ehe und Familie» der Schweizerische Evangelische Allianz, macht darin klar, dass die SEA nicht hinter der kritisierten Ratgeberliteratur steht. Und der Beobachter hebt auch hervor, dass Infosekta die Kursunterlagen von PEP4Kids und PEP4Teens, die im Brunnen Verlag Basel erschienen sind, akzeptiert. Im übrigen ist der Text sachlicher als die Titel und die Leads.

Auch die Pendlerzeitschrift 20Minuten wollte differenzieren und führte ein Interview mit Marc Jost, Generalsekretär der Schweizerischen Evangelischen Allianz, in dem er die Vorwürfe an die «Evangelikalen» widerlegen kann.

Datum: 09.04.2013
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet

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