Religion und Spiritualität

In der Zusammenarbeit für Entwicklung ausgeblendet?

Die "Rückkehr des Religiösen" stellt auch die bisherige Entwicklungszusammenarbeit in Frage. Dies hat Anne-Marie Holenstein in einem Papier für die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) des Bundes 2005 provokativ herausgestellt. Im Interview mit der Nachrichtenagentur Kipa erläutert die Ex-Direktorin des "Fastenopfers" ihre Gesichtspunkte.
Bewusst keine religiöse Beeinflussung: Das reformierte Hilfswerk HEKS unterstützt in Albanien einen Betreiber von Computerkursen…
…und einer Elektriker-Anlehre.
Anne-Marie Holenstein
Mary und ihre Familie im Südsudan brauchen Hilfe – aber auch Antworten auf die letzten Fragen zu Leben und Tod.
Das Allianzhilfswerk TearFund unterstützt in Malawi das Team der Mphonoe-Kirchgemeinde…
…, welches Aids-Waisen betreut, aber auch Inhalte der Bibel vermittelt.

Frau Holenstein, die so genannte "Rückkehr des Religiösen" ist zur Zeit ein allgegenwärtiges Thema. Dass es nun auch in der Entwicklungszusammenarbeit erst "entdeckt" werden musste, überrascht.
Anne-Marie Holenstein: "Rückkehr des Religiösen" ist in diesem Zusammenhang nur bedingt die richtige Formulierung. Denn es ist ja gerade nicht so, dass die Religion innerhalb der Entwicklungszusammenarbeit in Vergangenheit und Gegenwart keine Rolle spielte. Im Gegenteil: Religion und ihre Wirkung waren jederzeit vorhanden, nur ist das oft tabuisiert und ausgeblendet worden. Und das erweist sich in der Tat als problematisch.

Um diese Problematik bewusst zu machen, hat sich eine Diskussionsplattform gebildet. Wer steht dahinter, und was ist das Ziel?
Seit 2002 arbeiten Vertreterinnen und Vertreter verschiedener schweizerischer Nichtregierungsorganisationen (NRO) und der DEZA (Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit) zusammen mit dem Ziel, die Bedeutung der Religionen in der Entwicklungszusammenarbeit zu untersuchen. Wir sind von der provokativen These ausgegangen, dass Religion und Spiritualität eben wirklich Tabuthemen in der Entwicklungszusammenarbeit darstellen. Den Stand unserer Arbeit und unserer Überlegungen haben wir in einem Reflexions- und Arbeitspapier zusammengetragen, das von der DEZA veröffentlicht worden ist. Es soll Anstoss zu weiteren Diskussionen geben.


Wie kam es zu diesem Tabu? Immerhin sind doch zahlreiche Entwicklungsorganisationen zumindest in ihrer Motivation religiös ausgerichtet.
Die staatlich geförderte Entwicklungszusammenarbeit, von der auch christliche Hilfswerke profitieren, beruht auf der Trennung von Staat und Religion. Missionsarbeit darf die DEZA nicht unterstützen. Auch bei privaten christlichen Spenderinnen und Spender bis hin zu Pfarreien gibt es den Trend, für Entwicklungszusammenarbeit, auf keinen Fall aber für "Mission" zu spenden. Das hat dazu geführt, dass auch christliche Hilfswerke ihre Arbeit möglichst "säkular" darstellen.

Missionierung ist ein schwieriger Begriff geworden? Ist er überhaupt noch brauchbar?
Es geht nicht um das Wort als solches, sondern um das, was dahinter steht. Mission ist ein geschichtlich belasteter Begriff, weil damit eben auch Missionierung mit Feuer und Schwert verbunden war. Aber kirchliche Hilfswerke wie die evangelische "Mission 21" oder die katholische "Bethlehem Mission Immensee" führen den Begriff nach wie vor im Namen und machen gute und zeitgemässe Entwicklungsarbeit. Es kann also nicht um einen Begriff gehen, sondern um das, was sich die verschiedenen Organisationen innerhalb der Entwicklungszusammenarbeit zum Leitbild ihrer Arbeit machen. Und wo immer religiöse Motive eine Rolle spielen, sollte das nicht verschwiegen werden; denn wirksam ist Religion in jedem Fall.

Diese Wirksamkeit bezeichnen Sie im erwähnten Arbeitspapier als "ambivalent". Wie ist das gemeint?
Religiöse Gemeinschaften können machtvolle Energien in Bereichen wie den Menschenrechten, Umgang mit der Schöpfung und Ausgleich zwischen Armen und Reichen entfalten. Die spirituellen und materiellen Ressourcen der Glaubensgemeinschaften verführen aber auch zu Machtmissbrauch und politischer Instrumentalisierung. Allzu oft ist Religion missbraucht worden, um Kriege zu legitimieren. Der Umgang mit den Potentialen und Risiken von Religion kann darum lebensfördernd oder lebenshindernd wirken. Das ist mit der Ambivalenz des Religiösen gemeint, mit der die Entwicklungszusammenarbeit einen guten Umgang finden muss.

Ein Beispiel ist die den Männern untergeordnete Rolle, die den Frauen in den verschiedenen Religionen zugeteilt wird, angefangen bei den religiösen Grundlagentexten über deren Interpretation durch die Geschichte bis zu den Auseinandersetzungen in der Gegenwart.


Gehen Sie bei Ihren Überlegungen nicht von einem sehr "aufgeklärten" Selbstverständnis der Religionen aus? Ist das realistisch angesichts der zahlreichen Fundamentalismen in unserer Zeit?
Entwicklungszusammenarbeit beruht auf Partnerschaft. In jedem Projekt müssen die Partner klären, ob sie in diesem konkreten Umfeld eine gemeinsame Basis für die Zusammenarbeit finden. Haben wir gemeinsame Werte, auf denen wir aufbauen können? Es zeigt sich immer wieder, dass bei der Planung von Gesundheits- oder Landwirtschaftsprojekten religiöse Vorstellungen der Bevölkerung zu wenig ernst genommen werden. Das Beispiel illustriert, dass es in der Entwicklungszusammenarbeit nicht um religiös-theologische Grundsatzdiskussionen geht, sondern um die Analyse von Potentialen und Risiken religiöser Vorstellungen in einem gegebenen Umfeld und um das sensible Beobachten ihrer Auswirkungen.

Sie sprechen in Ihren Ausführungen einmal von "Desäkularisierung". Ist der Säkularisierungsprozess, wie er im Westen stattgefunden hat, also nicht nur ein Fortschritt?
Desäkularisierung meint kein Zurück in die Zeiten vor Aufklärung und Moderne. Desäkularisierung meint vielmehr, sich der Grenzen dieses Prozesses bewusst zu werden. Die Moderne hat bei vielen Menschen Verunsicherung ausgelöst, weil sie überkommene Gewissheiten unterminiert hat. Das ist eine Ursache für die Phänomene, die wir mit der "Rückkehr des Religiösen" bezeichnen. Nicht nur die Religionen müssen sich der Begrenztheit und Perspektivenhaftigkeit ihrer Welterklärungsmodelle bewusst sein, sondern auch die auf naturwissenschaftlichem Denken beruhende säkulare Weltsicht. Jürgen Habermas zieht daraus den Schluss, niemand dürfe dem anderen grundsätzlich ein "Wahrheitspotential" absprechen.


Welche positiv-kritischen Impulse können die Religionen in die Diskussion über Entwicklungszusammenarbeit – etwa auf dem Feld der Globalisierungskritik – einbringen?
Ich erinnere an den Prozess "Gerechtigkeit, Frieden, Erhaltung der Schöpfung", den Vertreterinnen und Vertreter christlicher Kirchen anfangs der neunziger Jahre in Gang gebracht haben. Sie haben damit der Entwicklungszusammenarbeit wichtige Impulse gegeben. "Gerechtigkeit, Frieden, Erhaltung der Schöpfung" sind auch die Gegenkräfte, die es braucht, um die Dynamik der Globalisierungsprozesse in lebensförderndem Sinn zu zähmen.

Anne-Marie Holenstein:
(Reflexions- und Arbeitspapier für die DEZA, März 2005)
Rolle und Bedeutung von Religion und Spiritualität in der Entwicklungszusammenarbeit

HEKS-Direktor Franz Schüle zum Thema:
„Wir machen keine Bekehrungsversuche, weil wir christlich handeln wollen“ (in Ausgabe 23/2005 suchen)

DEZA-Direktor Walter Fust zum Thema:
„Christliche Gemeinden sind wesentliche Träger solcher Demokratie fördernder Grundwerte“

Autor: Ingo Bäcker

Datum: 14.06.2006
Quelle: Kipa

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