«Der Islam wird zersetzt – und er setzt sich durch»

Im Hintergrundgespräch mit Livenet erläutert der Orientalist Heinz Gstrein, wie Islamisierung in der islamischen Welt und im Westen abläuft und wozu die Religion Mohammeds ihre Anhänger verpflichtet. Er äussert sich zum Anspruch des politischen Islam, zu Integration, Moschee und Minarett - und nimmt die Schweizer Muslime vor Verdächtigungen in Schutz.
Heinz Gstrein ist orthodoxer Christ und Nahostexperte.
Nach langem Bewilligungsverfahren errichtet: Minarett auf der türkischen Moschee in Wangen bei Olten.
Im Granada, wo 1492 das letzte mittelalterliche islamische Reich Westeuropas fiel …
… haben Muslime 2003 auf dem Hügel gegenüber der Alhambra eine neue Moschee eröffnet.
Das Kopftuch: Laut Gstrein wurde es in der Diaspora kreiert und neu zum Zeichen des militanten politischen Islam.
Giralda
Ministerpräsident Erdogan
In Köln wird eine Grossmoschee mit zwei 55 Meter hohen Minaretten und einer 36 Meter hohen Kuppel errichtet. Die CDU sprach von «Machtdemonstration».
Viele Muslime kommen aus einer anderen Welt: Markt in Marokko.

Livenet: Wie geschieht Islamisierung?
Heinz Gstrein:
Der Begriff hat eine doppelte Bedeutung. Zunächst bezeichnen wir damit die Rückkehr ab den 1970er Jahren zur äusserlichen islamischen Ordnung, Gesetzen und Strukturen in den am stärksten verwestlichten islamischen Ländern. Islamisierung fing an in Ägypten unter Sadat, griff über auf Algerien und wirkte sich 1979 im Iran in der sogenannten Islamischen Revolution aus.

Die Vorgänge in der Türkei möchte ich nicht mit der Islamisierung in anderen Ländern vergleichen, da sie eine andere islamische Tradition hat. Natürlich hat man da auch das Kopftuch, den Schleier und Alkoholverbote, doch wir sehen ein Bemühen um eine Verinnerlichung. Die mystischen Bruderschaften leben stark auf, während sich die Islamisierung im arabischen und persischen Raum gegen die Mystik richtet und auf eine äusserliche 'Werkgerechtigkeit' abzielt. Zudem sehen wir in der Türkei Bemühungen, eine Art islamisch-demokratische Bewegung zu schaffen.

Was in der Türkei geschieht, strahlt auf den Balkan aus. Im Kosovo, in Makedonien und Albanien wurden seit 1980 Hunderte von Moscheen gebaut: eine stärkere Präsenz des Islam.
Ja. Grösstenteils aber nicht bodenständig, sondern getragen von saudi-arabischen und iranischen Einflüssen. Das geht so weit, dass Mädchen und Frauen, die sich verschleiern, dafür gar ein Monatssalär bekommen. Das wurde mir diesen Sommer im Kosovo wieder bestätigt. Der Islam, der vor allem in Albanien, aber auch Bosnien und Makedonien bisher weitgehend gemässigt war, wird immer mehr zurückgedrängt.

Was bringt dies für die Schweiz mit sich?
Lassen Sie mich etwas ausholen. Wir hatten ursprünglich kein Problem mit der muslimischen Diaspora. Die Leute kamen aus dem ehemaligen Jugoslawien, einem anti-religiösen Staat, und der areligiösen Türkei. Die Muslime, die zu uns kamen, traten gar nicht als Muslime auf. Sie hatten keine religiöse Identität, sondern traten als Türken oder ‚Jugos‘ oder Kosovaren in Erscheinung. Es gab keine religiöse Dimension.

Doch schon damals sammelten Imame ihre Landsleute.
Genau das war die Entwicklung. Wir Christen müssen uns an die Brust klopfen. Wir haben uns recht unchristlich verhalten gegenüber den 'Fremdarbeitern', die wir für die schmutzigen Arbeiten einsetzten. Auf der Suche nach einem Selbstwertgefühl, nach einer Identität, haben sie bei uns den Islam entdeckt, der in ihrer Heimat verschüttet war. Die meisten hatten keine höhere Bildung und eine noch geringere religiöse Bildung. Weder die Türkei - damals jedenfalls, heute ist das anders - noch Jugoslawien waren interessiert, den Leuten Lehrer und Moscheevorsteher zu senden. In die Lücke sprangen radikale Bewegungen. Die radikale Islamisierung ist bei uns so geschaffen worden.

Wie meinen Sie das?
Das Kopftuch wurde hier in der Diaspora kreiert! Vorher war es aus Tradition getragen worden, nun wurde es ein Zeichen des militanten politischen Islam. Womit wurde in Algerien gegen die französische Kolonialmacht demonstriert? Die Frauen haben sich wieder verschleiert. Dasselbe geschah im Iran, im Protest gegen die Verwestlichung unter dem Schah, dessen Geheimdienst alles überwachte. Das Kopftuch wurde angezogen. Ich erinnere mich, wie vor 20 Jahren Türkinnen, die hier ein Kopftuch trugen, es beim Landen des Flugzeugs in Istanbul oder Ankara ablegten, denn in ihrer von Kemal Atatürk geprägten Heimat war das noch ganz und gar nicht üblich.

Islamisierung stützt sich auf die Scharia, auf Forderungen des islamischen Rechts. Es heisst, dass auch in der Schweiz Beamte mit islamischen Rechtsvorstellungen und entsprechenden Forderungen konfrontiert werden.
Die islamische Rechtsauffassung war immer schon virulent. Doch ist bei uns kaum bekannt, dass für die Migration von Muslimen zu uns Rechtsgutachten islamischer Autoritäten erfolgen mussten. Diese Gelehrten haben Muslimen gestattet, in den Westen auszuwandern, in Ländern ohne islamische Gesetzesordnung. Denn der Muslim darf normalerweise nur in einer islamischen Ordnung leben.

Wenn er sich ausserhalb dieser Ordnung begibt, dann nur unter bestimmten Verpflichtungen und Bedingungen. In erster Linie, dass diese Emigration der Ausbreitung der islamischen Ordnung - wohlgemerkt: nicht des islamischen Glaubens! - förderlich ist. Schon damals wurden die Gutachten (Fatwas) abgegeben, in Ankara, in Prishtina, in Sarajevo und Tetovo, dass die Entsendung von Fremdarbeitern der Ausbreitung des Islam bei uns in der Schweiz nützen wird. Der Muslim wurde verpflichtet, im Ausland für die Aufrichtung einer islamischen Ordnung zu arbeiten.

Der Islam ist ja nicht nur mit Feuer und Schwert ausgebreitet worden (das stimmt in westlicher Richtung bis zu den Pyrenäen und ins Frankreich des 8. Jahrhunderts, in der frühen Neuzeit bis Wien, durch die Moguln bis an den Ganges). In den Fernen Osten (Indonesien, Malaysia, Süd-Philippinen) und nach Westafrika geschah die Ausbreitung durch Migration. Es ist bezeichnend, dass eine Fatwa der Kairoer Al-Azhar-Universität, der renommiertesten sunnitischen Schule, die Bootsflüchtlinge, die auf dem Mittelmeer umkommen, als Märtyrer bezeichnet: Sie gelten als Muslime, die auf dem Weg zur Ausbreitung des islamischen Reichs gestorben sind.

Kann sich der traditionelle Islam das Leben seiner Anhänger nur als im Dienst der Sache stehend vorstellen?
Ja, und diese Vorstellung von islamischer 'Mission' (arabisch dawa) drückt sich territorial aus. Wo der Einsatz für die Sache aussichtslos schien, waren diese Menschen sogar verpflichtet zurückzukehren. Als die Osmanische Herrschaft auf dem Balkan zurückgedrängt wurde, hat man die Leute immer mitgenommen, aus religiösen Gründen: damit sie in einer islamischen Ordnung leben konnten. Heute überlegen islamisch orientierte Palästinenser in Israel, ob sie auswandern müssen, wenn das Regiment des Judenstaats andauert.

Reformmuslime denken nicht mehr territorial; sie schätzen die Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten im Westen.
In den Augen der grossen Mehrheit der islamischen Gemeinschaft sind jene, die wir Reformmuslime und liberale Muslime nennen, schlechte oder gar keine Muslime mehr. Darüber müssen wir uns im klaren sein. Der gläubige, fromme Muslim muss sich einsetzen für die Ausbreitung der islamischen Herrschaft. Der eine wird das tun mit Mitteln der Frömmigkeit, der andere mit der Waffe in der Hand, wenn er glaubt, dass das nötig ist.

Der Islam ist von Beginn darauf angelegt, Allahs Reich über die ganze Erde auszubreiten. Er hat nicht nur einen globalen Verkündigungsanspruch, sondern - und in erster Linie - im Namen Allahs einen weltweiten Herrschaftsanspruch. Das ist so seit der Auswanderung Mohammeds aus Mekka im Jahr 622.

Ich beschäftige mich seit über 40 Jahren mit dem Islam und habe viel Schönes an ihm entdeckt. Aber es ist unehrlich zu sagen, dass die Zulassung von Gewalt nicht zu den Grundlagen des Islam gehört. Wenn wir einen gewaltlosen Islam sehen wollen - wie ihn etwas die islamischen Mystiker verstehen -, müssen wir zum ganz frühen Mohammed in Mekka zurückgehen. Er war ein Gottsucher, der seinem Gott Allah in der Wüste begegnet ist. Von daher könnte man einen gewaltlosen Islam aufbauen. Das ist bisher aber nur ein Anliegen ganz esoterischer, kleiner Kreise. Der Islam, wie er etabliert ist, ist eine Religion politischer Ausbreitung, notfalls auch mit Gewalt.

Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zum Christentum. Im Evangelium heisst es ganz klar - so sehr wir Christen in der Geschichte auch dagegen gesündigt haben, wohl noch mehr als die Muslime -: «Mein Reich ist nicht von dieser Welt» (Jesus vor Pilatus, Johannes 18,36). Mohammed hat spätestens ab 622, als politischer Führer in Medina, das Reich in dieser Welt nicht nur gepredigt, sondern in Schlachten Gegner umbringen lassen und die Frauen besiegter Feinde in seinen Harem gezwungen. Das ist nicht zu bestreiten.

Bedenken wir allerdings, dass manche Gestalten des Alten Testaments in diesen Punkten ähnlich handelten. Man kann Mohammed vor einem alttestamentlichen Hintergrund besser verstehen.

Welche Bedeutung hat die Moschee für traditionelle Muslime? Sie haben dargelegt, dass erste Moscheen aus ummauerten Anlagen in Feldlagern entstanden, welche muslimische Führer unweit eroberter Städte für ihre beduinischen Kämpfer einrichteten.
Das ist den Quellen zu entnehmen. Die Minarette waren ganz ursprünglich Wachttürme an den Ecken der Feldlager. Wir sehen das heute noch schön in Alt-Kairo, an der Lagermoschee von Amr Ibn al-Az, dem Eroberer Ägyptens (640). Der Muezzin, der zum Gebet ruft, ist nicht zwingend mit allen Minaretten des Lagers, aber mit einem verbunden. Mohammeds Biographen lassen denken, dass er das nicht kannte und die Versuche, von einer Mauer zum Gebet zu rufen, insgesamt abgelehnt hat. Ursprünglich gab es eine Einladung zum Gebet an der Tür der Moschee, nicht vom Turm.

Der Muezzin gibt aber nicht nur den Ruf zum Gebet weiter, sondern fordert auf, Allah allein zu dienen, den Glauben Mohammeds anzunehmen, in die Moschee zu geben und sich vor Allah niederzuwerfen. Der Muezzin proklamiert das islamische Glaubensbekenntnis. Und wer dieses Bekenntnis nachspricht oder es auch nur innerlich ohne Ablehnung aufnimmt, wird Muslim.

Das ist das eigentlich Problematische und Gefährliche am öffentlichen Ruf des Muezzin in weitgehend nicht-islamischen Gegenden wie bei uns. Es wäre leichtsinnig, nur die Frage einer Lärmbelästigung zu stellen. Durch den Ruf des Muezzin wird die Religionsfreiheit aller Nicht-Muslime verletzt. Kirchenglocken sind in ihrer Botschaft neutral, der Ruf des Muezzin ist es nicht. Er ist eine ganz klare Botschaft gegen alle Andersgläubigen und Andersdenkenden.

Die Moscheevereine in der Schweiz, die heute eine Moschee mit Minarett bauen wollen, verzichten aber explizit auf den Muezzinruf.
Das sind Absichtserklärungen, aber keine bindenden Zusagen. Selbst wenn es so wäre, würden damit diese schweigenden Minarette ihres wenigstens teilweise religiösen Zweckes völlig entkleidet. Sie wären erst recht reine Sieges- und Herrschaftszeichen islamischer Macht.

Die Moderne hat neue Bedingungen geschaffen. Die Autorität der Gelehrten nimmt ab, wenn islamische Fernseh-Prediger über Satellit ihnen Konkurrenz machen. Ansprüche lassen sich weniger durchsetzen.
Dies geschieht tatsächlich. Doch geschlossene und klare Systeme wie der Islam, dessen Gesetz für den ganzen Tag vorschreibt, was man zu tun und zu lassen hat, haben etwas Anziehendes und Verführerisches in Zeiten allgemeiner Orientierungslosigkeit. Wir haben in Europa eine Bewegung hin zum Islam. Einige, die übertreten, sind Opportunisten; ich kenne Bankbeamte und Diplomaten, die kaltschnäuzig Muslime werden, weil es ihrer Karriere gut tut. Es gibt zweitens Menschen, die völlig ungläubig oder agnostisch waren und durch den Islam ihr erstes Gotteserlebnis haben. Das ist zu respektieren.

Eine dritte Gruppe macht mir am meisten Sorge: gläubige Menschen, die sich von ihren Kirchen verraten und verkauft fühlen und nun im Islam klare Grundsätze finden, eine Religion, die zu bekennen man sich nicht schämt. Man weiss, woran man ist, und hat einen Damm gegen Sittenverwahrlosung. So sehe ich ein Doppeltes: In der Moderne wird der Islam einerseits zersetzt; anderseits setzt er sich auch durch.

Wann begann die Auseinandersetzung mit der Moderne?
Ein erstes Mal wurde der Islam durch die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts mit den Kräften der Moderne konfrontiert. Da gab es auch einen Reformislam, zu deren hervorragenden Vertretern Jamal ad-Din al-Afghani gehört. Diese Reformbewegung blieb in den Grenzen der islamischen Vorgaben. Ihr Kernsatz: Offenbarungsquelle sind der Koran und was von Mohammed und den ersten Muslimen überliefert ist. Die Islamreformer nahmen als dritte Offenbarungsquelle die menschliche Vernunft dazu. So wurde beispielsweise nicht an der Steinigung der Frau gerüttelt, aber geschehen sollte sie mit ein paar Kieselsteinen, die man der Sünderin auf den Kopf legte oder warf.

Da findet sich ein ganz grosser Unterschied zum Reformjudentum. Die Juden haben bereits im Mittelalter, auf der Wormser Rabbinersynode von 1220, das Steinigen überhaupt abgeschafft. Im Reformislam hat man es nicht abgeschafft, sondern gemildert. Das erleichterte es den nachfolgenden radikalen Bewegungen, die den Reformislam beerbten, das Rad wieder zurückzudrehen.

Auch den Drang nach Weltherrschaft haben die älteren Islamreformer nicht aufgegeben. Al-Afghani sagte, Muslime sollten sich aller Mittel benützen, um einen modernen Islam zu gestalten, damit das Ziel umso eher realisiert würde. Deshalb sehen wir heute auch den Einsatz modernster Technik in islamischen Staaten, wogegen die Humanwissenschaften verkümmern.

Wie wirkt sich die von Ihnen geschilderte Prägung von Muslimen auf ihre Integrationsbereitschaft hier aus?
Für den so geprägten Muslim kann es eine echte Integrationsbereitschaft nicht geben. Er muss die fremde Welt dem Islam angleichen.

Dazu ist er aber als Einzelner nicht imstande. Der Imam, der Vorbeter der Gemeinde, gibt ihm vielleicht einen Ansatz ...
... darum ist vermehrt das äusserliche Drängen festzustellen, Satzungen der Scharia in Geltung zu bringen. Der Einzelne kann kaum etwas ausrichten - die Scharia hilft ihm aber dabei. Sie umfasst viele Bereiche: Speise- und Kleidungsgebote, das Familien- und Erbrecht.

Allerdings gibt es den Islam auch ohne Scharia; das ist festzuhalten. In Ostasien versucht man heute die Scharia einzuführen; traditionell aber hat sie das Leben dort nicht bestimmt. Der ganze fernöstliche Islam war über Jahrhunderte ein Islam ohne Minarett und ohne Scharia. So wie der Islam sich heute versteht, herausgefordert von Säkularisierung, ist die Scharia geradezu das Rückgrat des Islam.

Die Orientalisten haben die Entstehung der Scharia erforscht: Christliche Rechtsgelehrte und jüdische Talmudisten, die zum Islam übertraten, gestalteten die Scharia aus. So sehen wir heute an den verschiedenen Rechtsschulen des Islam deutlich christliche und jüdische Einflüsse. Zum Beispiel stammt das Verbot für den Nicht-Muslim, eine Muslima zu heiraten, aus dem Codex des spätrömischen Kaisers Theodosius. Er verbot im 4. Jahrhundert Heiden, Christinnen zu heiraten. Wer es gleichwohl tat, wurde um einen Kopf kürzer gemacht ...

Eines der Probleme, die Muslime hier haben: Das islamische Recht schreibt ganz genau vor, wie Christen, Juden und andere unter islamischer Herrschaft leben können, was sie dürfen und was nicht. Es gibt aber in der Scharia kaum Vorgaben für das Leben einer islamischen Gemeinde inmitten einer nicht-islamischen Umgebung - weil es gar nicht dazu kommen dürfte. Das ist ein ganz grosses Manko und viele Probleme hängen damit zusammen.

Manifestiert sich der Wille zur Ausbreitung des Islam in der Schweiz nach Ihrer Wahrnehmung ähnlich wie in Städten Deutschlands, Frankreichs oder Englands, die als abschreckende Beispiele gelten können?
Die Situation in der Schweiz unterscheidet sich wesentlich von der in anderen Ländern. Ein militanter Islam braucht einen sozialen Nährboden. Er kann nur dort gedeihen, wo Menschen in Not und zornig über Missstände sind. Das ist hier nicht der Fall ...

Die Attentäter des 11. September, die in Hamburg studierten, und die Bomber von London stammten aus geordneten Verhältnissen.
Die intellektuellen Führer einer Bewegung kommen meistens aus der Oberschicht, das ist von Marx und Engels bis zu Osama bin Laden festzustellen. Aber damit es daraus eine soziale Bewegung gibt, braucht es Missstände. Unsere Muslime leben in gesunden sozialen Verhältnissen, während in Deutschland die Arbeitslosigkeit Probleme erzeugt und in Frankreich Tausende Jugendliche keine Perspektive haben.

Was bedeutet eine Moschee für eine islamische Gemeinde? Auch Schweizer Moscheevereine wünschen stattliche Moscheen mit Schulungsräumen.
Von Haus aus ist die Moschee die gamaa, die Gemeinschaft. Man braucht kein Gebäude. Wo Muslime sich zum Beten versammeln, da ist Moschee. Der Moscheebau entwickelte sich geschichtlich in Nachahmung der christlichen Kuppelkirchen. Das Minarett wurde aus einem Wachturm zur Nachahmung und Übertrumpfung der christlichen Kirchtürme. In der Praxis ist es zu einem Zeichen des etablierten, herrschenden Islam geworden.

Für den Muezzin braucht man ein Minarett; in osmanischer Zeit wurde es aber üblich, Moscheen mit vier oder sechs Minaretten zu errichten, die für die Macht und Ausbreitung des Islam standen. Wir sehen das heute wieder deutlich in Bosnien. In der kroatisch-bosnjakischen Föderation gibt es keine markierte Grenze - sie wird von Muslimen mit Minaretten abgesteckt.

In der Schweiz kennen wir das aber nicht.
Für die Muslim-Gemeinden in der Schweiz ist es wichtig, Versammlungsräume zu haben. Sie sind ihr gutes Recht. Die Religions- und Meinungsfreiheit gilt. Und darum kann man auch nicht sagen, mit Verweis auf die bedrängte Lage von Christen in der islamischen Welt, dass Muslime hier keine Religions- und Versammlungsfreiheit haben. Sie ist ein Grundrecht der Menschen.

Anders verhält es sich mit baulichen Symbolen, die politisch oder gar negativ besetzt sind. Dazu gehört nicht nur das Minarett, sondern auch die Moscheekuppel. Kirchtürme und Kirchenkuppeln sind Christen in islamischen Ländern ausdrücklich verboten. Kuppeln darf es da nur geben in Gebäuden, die aussen nicht als Kirche erkennbar sind. In diesem Punkt können wir - ich finde: müssen wir - das Gegenseitigkeitsprinzip anwenden. Dies geschah übrigens in der Vergangenheit auch: Es gab eine eigene Rechtsdisziplin, die die gegenseitigen Rechte von Christen in der islamischen Welt und von Muslimen bei uns geregelt hat.

Sie wollen Gegenseitigkeit heute einfordern?
Auf Gegenseitigkeit müssten wir weiterhin pochen. Ein Musterbeispiel ist die Moschee von Genf, die von Saudi-Arabien erbaut wurde und kontrolliert wird. Bei ihrer Errichtung wäre mindestens eine Kirche in Saudi-Arabien fällig gewesen: Die Schweiz hätte sie für Christen aus der Schweiz und dem übrigen Europa fordern sollen. Wir hätten heute keine helvetisch-reformierten Kirchen in Ägypten, Tunesien und Algerien, wenn dieser Grundsatz nicht früher auch von der Schweiz angewandt worden wäre.

Heute herrscht leider nicht nur in den Kirchen, sondern auch in Jurisprudenz und Diplomatie eine völlige Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Man weiss nicht, wie man sich dem Islam gegenüber verhalten soll. Man versucht es dann mit Schlagworten wie Toleranz, Freiheit, Liberalität usw. Aber bei einer Religion, die das Leben der Menschen totalitär bestimmt und auf globale Ausbreitung des Totalitarismus angelegt ist, ist das eine gefährliche Haltung: Man steckt den Kopf in den Sand.

Der Islamologe Bassam Tibi findet aufgrund seiner Erfahrung in Deutschland nicht Minarette bedenklich, sondern Schulungsräume in den Moscheen, die Indoktrination im Verborgenen ermöglichen.
Wie auch die Abstimmung über die Minarettverbots-Initiative ausgeht: Durch die Diskussion ist der ganze Fragenkomplex des Islam in einer grossen Breite in der Schweizer Bevölkerung bekannt geworden. Man könnte natürlich sagen, was gelehrt werde, müsse sowieso überwacht werden. Da geht es nicht um Religionsfreiheit, sondern um eine Aufgabe der Polizei.

Doch das Minarett ist das augenfällige Symbol islamischer Macht und Herrschaft. Darum unterstütze ich die Initiative aus drei Gründen:

  1. Auf Schweizer Boden sollen keine solchen Herrschafts- und Machtsymbole stehen. Die Kommunisten hierzulande hatten (auch im Zweiten Weltkrieg) mit wenigen Ausnahmen Meinungsfreiheit - aber man hätte ihnen nie erlaubt, Monumente mit Hammer und Sichel oder gar ein Stalin-Denkmal zu errichten. Ein islamisches Machtsymbol hat ausserhalb des islamischen Machtbereichs nichts verloren.
  2. gilt das Prinzip der Gegenseitigkeit. Ich befürchte nicht, dass es den Christen in islamischen Ländern schlechter gehen wird, wenn wir Minarette in der Schweiz verbieten. Schlechter als bisher kann es ihnen kaum gehen. Im Gegenteil wird ein Ja in der islamischen Welt ein Nachdenken auslösen: Müssen wir uns gegenüber den Christen unter uns besser verhalten, damit es nicht zu solchen Reaktionen kommt?
  3. können wir nur schwer überprüfen, wer tatsächlich für den Bau von Minaretten aufkommt. In den wenigsten Fällen tun es die islamischen Gemeinden vor Ort, sondern internationale Organisationen und islamische Stiftungen spielen da hinein. Ich finde es durchaus legitim, in der gegenwärtigen Situation den Minarettbau zu verbieten, so wie im 19. Jahrhundert Jesuiten in der Schweiz die Tätigkeit verboten wurde. Das Verbot muss nicht auf ewig sein, und jede Regel hat ihre Ausnahmen.

Der Zürcher Staatsrechtsprofessor Andreas Kley argumentierte an einer Tagung in Freiburg, das Verbot eines Symbols führe dazu, dass sein Gehalt umso stärker wirke.
Ich glaube, Kley kennt die Psychologie islamischer Gesellschaften zu wenig. Muslime und Muslimas fühlen Respekt vor dem, der eine Position vertritt und Forderungen zurückweist. Nachgiebigkeit wird überhaupt nicht geschätzt vonseiten der islamischen Welt. Mit meinen vielen islamischen Freunden habe ich überhaupt keine Probleme wegen meines Eintretens für die Initiative.

Feindschaft bis hin zu richtigem Hass und Geifern kommt aus den Kirchen! Der Muslim - natürlich haben Regeln immer Ausnahmen - reagiert mit Hochachtung für den, der sich wehrt, der seine Meinung vertritt und sich dafür einsetzt. Leider sind die meisten Kirchenleiter heute nicht die richtigen Leute dafür.

Würden einige Minarette in der Schweiz - das umstrittene Plakat zeigt sieben - die religionspolitische Situation verändern? Ist eine Verfassungsbestimmung nötig - wird da nicht mit Kanonen auf Spatzen geschossen?
Ich würde nicht sagen, dass man auf Spatzen schiesst. Bei einer beunruhigenden Gesamtentwicklung, die schwer greifbar ist, muss man ein Symbol herausgreifen und sich ihm entgegenstellen. Es geht nicht um einzelne kleine Türmchen. Mit dem Genfer Minarett oder dem Turm der Ahmadiyya-Moschee in Zürich gibt es keine Probleme. Aber das Minarett in Wangen bei Olten wurde im Zeichen der Grauen Wölfe errichtet. Wir haben etwa 150 muslimische Gebetshäuser im Land. So hätten wir mittelfristig mindestens hundert Minarette zu gewärtigen. Und dann nicht mehr kleine, die niemand stören.

Man muss irgendwo anfangen, um die politische Islamisierung zu stoppen. Das Minarett finde ich einen guten Anknüpfungspunkt. Dabei muss uns ganz klar sein, dass es weniger um das Minarett als solches geht als um das, was mit dem Minarett auf uns zukommt.

Wenn in der Moschee Machtansprüche des Islam vermittelt werden, geschieht auch ohne Minarett, was wir nicht wünschen.
Im Prinzip ja. Aber irgendwo muss man anfangen. In der Minarettdebatte ist die Problematik der Moscheen spürbar. Die heute gängige Parole heisst ja nicht nur: «Die Minarette sind unsere Bajonette.» Sondern auch: «Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Moscheekuppeln unsere Stahlhelme.»

Hören Sie diese Parolen in der Schweiz?
Sie kennzeichnen die heutige Islamisierungsbewegung im Ausland. Die Muslime in der Schweiz möchte ich in Schutz nehmen. Gegen sie geht die Initiative auch nicht. Meine Gespräche bestärken mich im Eindruck, dass die meisten kein Minarett möchten - und auch keine Kuppelmoschee. Auch anderswo passen sich Bauherren an, die Saudi-Araber inbegriffen. In Islamabad in Pakistan werden Moscheen ohne Minarett und Kuppel errichtet, ganz moderne Bauten.  

Ich vermute, dass die Abstimmung über die Initiative nicht das letzte Wort sein wird. Ein richtiger, ehrlicher, oft harter Dialog ist damit eingeleitet. Aber: fremdenfeindliche Elemente dürfen wir nicht einfliessen lassen. Die Menschen, die Muslime und Muslimas, sind für uns Christen Geschwister. Deshalb belastet mich die Auseinandersetzung auch nicht, so sehr ich in vielen kirchlichen Kreisen wegen meines Engagements angegriffen werde.

Heinz Gstrein (68) lebte über 30 Jahre in der islamischen Welt, erst als Student, dann als Korrespondent von Schweizer Medien. Ausgebildeter Orientalist und Theologe, lehrt Gstrein heute an der Uni Wien. Er hat Bücher über neue islamische Bewegungen und die Sufi-Meditation verfasst.

Links zum Thema:
Mehr zum Reformislam
«Man muss irgendwo anfangen, um die politische Islamisierung zu stoppen»
Livenet-Dossier zur Minarettdebatte

Datum: 15.10.2009
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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