Die verdrängte Realität

Bewusst leben – Sterben lernen

Wer sich dem Sterben bewusst ist, wird das Leben mehr geniessen (Symbolbild)
Die wenigsten Menschen sprechen über den Tod, weil ihnen das Thema unangenehm ist. Doch wer bewusster auf sein Sterben zugeht, kann das Leben besser geniessen.

Als die Ärztin meine Mutter vor ein paar Jahren fragte: «Haben Sie schon einmal daran gedacht, sich in einem Hospiz anzumelden?», war diese zunächst entrüstet. «Da geht man doch nur zum Sterben hin…» Die Ärztin seufzte leicht. Es stand ihr ins Gesicht geschrieben: «Deshalb frage ich Sie doch». Meine Mutter wusste zwar, dass ihr Krebs im Endstadium angekommen war, aber sie begriff es trotzdem nur langsam. Ihr Weg ins Hospiz war segensreich und gut. In aller Ruhe und in einer friedlichen und freundlichen Atmosphäre konnte sie sich hier verabschieden. Wir liessen sie gehen und auch sie liess uns als Familie nun los. Trotz der hellen Räume, der lebendigen Atmosphäre, dem Kuchenbacken und dem gemeinsamen Spielen stand hier unsichtbar und doch für alle lesbar über der Tür: Lebendig kommst du hier nicht mehr heraus.

Doch warum müssen viele für diese Erkenntnis erst 79 Jahre alt werden und ins Hospiz kommen? Tatsächlich steht dieser Satz über jedem von uns, denn die Sterbequote von Menschen liegt seit ewigen Zeiten unverändert bei 100 Prozent. Kein Wunder, dass das Thema in der Bibel breiten Raum einnimmt. Entgegen dem Klischee wird es hier allerdings nicht nur mit der Ewigkeit, dem grossen «Danach» verknüpft. Meist geht es dabei ums Hier und Jetzt – wie in den bekannten Worten des Psalm 90: «Lehre uns unsere Tage richtig zählen, damit wir ein weises Herz erlangen!»

Verdrängt und deprimierend

Der November ist ein klassischer Sterbemonat. Der Oktober kann noch «golden» sein, doch Kälte, Regen und oft der erste Schnee unterstreichen, dass das Jahr jetzt zu Ende geht. Dunkle Tage und trübes Wetter sorgen dabei für den sprichwörtlichen Novemberblues. Der Monat beginnt mit dem katholischen Allerseelen und schliesst kurz vor dem neuen Kirchenjahr im Advent mit dem evangelischen Ewigkeits- oder Totensonntag. All das zusammen rückt das Thema Tod immer wieder in den Fokus – für viele ein unangenehmer Gedanke. Sterben verstört. Ich stelle zwar irgendwann überrascht fest, dass nicht nur andere älter werden, sondern ich auch, aber das hat nichts mit dem Ende meines Lebens zu tun, oder etwa doch? Todesfälle haben wir als Gesellschaft weitgehend in die Unsichtbarkeit geschoben, denn gestorben wird im Krankenhaus oder im Hospiz. Und wenn ein Leben schon zu Ende geht, dann sollte es nach Möglichkeit eine alte Person betreffen.

Die Realität zeigt dagegen: Auch wenn wir statistisch immer älter werden, sterben auch Kinder und Jugendliche an tödlichen Krankheiten oder Menschen werden «unerwartet in der Blüte ihres Lebens weggerissen», wie es manchmal in Traueranzeigen heisst. Der Gedanke an einen möglichen Abschied für immer ist deprimierend. Kein Wunder, dass das Sterben deshalb gern verdrängt wird. Das Problem dabei ist nur, dass dieses Beiseiteschieben nicht fröhlicher macht oder befreiend wirkt, sondern durchaus negative Auswirkungen aufs Dasein hat. Wenn ich so tue, als ob ich alle Zeit der Welt hätte, dann vertue ich sie leichter mit Streitereien, Nichtigkeiten, Trivialitäten – statt das Leben auszukosten, wie es der oben erwähnte Psalm 90 nahelegt.

Perspektive Ewigkeit

Wenn ich weiss, dass ich nur noch eine Woche zu leben habe, dann kann das erheblichen Druck aufbauen. Es kann mir aber auch dabei helfen, meine verbleibende Zeit anders zu nutzen: gleich zu verzeihen, weil ich es später sowieso tun würde; mich nicht mit plattem Gerede zufrieden zu geben, wenn ich auch ein echtes Gespräch führen könnte; Essen nicht herunterzuschlingen, sondern es zu geniessen; ganz im Hier und Jetzt zu leben, weil es kein Morgen geben wird. Was wäre verkehrt daran, immer so zu leben – selbst wenn das Leben noch viele Jahre weitergeht? Die Kunst zu leben ist gleichzeitig die Kunst, sterben zu lernen – und umgekehrt. Beides zusammen ermöglicht ein gutes Leben.

Loslassen kann schwer werden und Sterben kann schmerzhaft sein, aber wenn ich jetzt schon lerne, das nicht zu umklammern, was ich sowieso nicht festhalten kann, dann gewinnt mein Leben eine neue Qualität: Geld bleibt wichtig, es ist aber nicht mehr alles, denn «das letzte Hemd hat keine Taschen». Die Beziehung zu lieben Menschen bleibt wichtig, aber ich kann sie loslassen, weil mein Einfluss sowieso begrenzt ist. Überhaupt stellt das Bewusstsein, dass mein Leben endlich ist, vieles infrage. Wieso sollte ich jammern, wenn ich auch lachen kann? Wieso sollte ich mir einen kurzfristigen Vorteil verschaffen, wenn ich Gerechtigkeit herstellen kann? Wieso sollte ich nur existieren, wenn ich stattdessen leben kann?

Das Ziel ist Fülle

Wenn ich mich oder andere nur auf ein besseres Jenseits vertröste, ist das auch eine Art von Verdrängung. Wenn ich die Ewigkeit ignoriere, bleibt das Leben hier sehr eindimensional. Scheinbar sind wir Menschen auf Ewigkeit angelegt, weil Gott sie uns bereits ins Herz gelegt hat (Prediger, Kapitel 3, Vers 11). Und genauso offensichtlich geht es Gott nicht nur um eine gute Zukunft nach einem schwierigen Erdendasein. Jesus selbst beschreibt seinen Freunden die Aufgabe, die er hat, folgendermassen: «Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es im Überfluss haben.» (Johannes, Kapitel 10, Vers 10) Gedanken wie diese helfen mir, das Leben zu feiern und es im Blick auf Gott zu leben, der es mir anvertraut hat. Gleichzeitig weiss ich, dass dabei Dinge schiefgehen, dass manches ungesagt und ungelebt bleibt. Möglicherweise empfinde ich am Schluss sogar eine gewisse Leere, weil ich so vieles nicht geschafft habe und nie mehr nachholen kann. Nie mehr? Hier hinein kommt Gottes Angebot, dass mein Leben nicht abgeschlossen werden muss, sondern sich zu ihm, zum Himmel hin öffnen kann. Wer leben lernt, kann sterben. Und wer sterben lernt, kann leben.

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Datum: 10.11.2025
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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