Oliver Merz im «polnischen Davos»

«Aufarbeiten, sonst verliert man wertvolle Zeit»

Oliver Merz
Unlängst war Oliver Merz als Theologe ans «polnische Davos», dem Forum Ekonomiczne, eingeladen. Seine Gedanken zum Umgang mit der Säkularisierung sind prägend für die nächsten Jahre.

«Polen und die EU haben den Anspruch, dass es das europäische Pendant zum WEF ist. Der Anspruch ist, dass es mindestens für Mittel- und Osteuropa das grösste Treffen dieser Art ist», bilanziert Oliver Merz. «Dass ich als Theologe an die Wirtschaftskonferenz eingeladen wurde, war für mich überraschend und eine Ehre.»

Um genau zu sein, war Oliver Merz zu zwei Treffen kurz hintereinander ins nordöstliche Nachbarland Deutschlands eingeladen. «Beim ersten war ich der einzige Theologe im Panel. Ich hielt fest, dass die Kirche, Religionsgemeinschaften und religiöse Themen allgemein zu wenig vertreten sind, dies wurde offenbar aufgenommen.» Immerhin ging es um den Spannungsbereich, dass die Gesellschaft auseinanderbricht und dringend verbindende Werte braucht; ein Thema, zu dem die Kirche etwas zu sagen hat.

In Polen ist man von den gegenwärtigen Ereignissen schockiert; sie fordern heraus. «Im Krieg in ihrer Nachbarschaft kämpfen quasi Christen gegen Christen, das erschüttert Polen. Ich führte einige Gespräche und merkte: Die Suche nach Lösungen tut Not, und man ist sehr offen für konstruktive Lösungsvorschläge… Ich wurde gleich wieder eingeladen.»

Die Konsequenzen der Säkularisierung

Die zweite Konferenz, das besagte Wirschaftsforum, war wiederum gross und sehr eindrücklich. «Armee, Polizei, man wurde mehrfach gescannt, Helikopter kreisten, die Sicherheit stand zuoberst. Es war für mich wie im Film. Der Ort war stark isoliert. Mehrere Hotels sind in Polen insbesondere für solche Treffen gebaut worden. Das jeweilige imposante Hotelbad umfasst beispielsweise ein Wellenbad, eine grosse Wasserrutschbahnanlage, Dampfbäder, Saunen und so weiter, ähnlich dem Alpamare», erinnert sich Oliver Merz.

Hier nahm er an der Podiumsdiskussion zum Thema «Secularization of Europe – a Question about the Consequence» teil. Die anderen Podiumsteilnehmer «waren allesamt katholisch, zum Beispiel Professoren oder aus einem Mönchsorden.»

«Sie erleben den Kollaps erst»

«Ich als evangelischer und ökumenisch offener Theologe, der sich für Inklusion stark macht, war quasi ein Gegenpol. Natürlich konnte ich die Bestürzung und Ohnmacht über den erdrutschartigen Zusammenbruch der institutionalisierten Religion in diesem Land schmerzlich nachvollziehen. Aus der stark säkularisierten Schweiz kommend, wirkte jedoch manches reaktionär auf mich; im Stile von ‘Es müsste halt wieder die Wahrheit klar gesagt werden!’», erinnert sich Oliver Merz.

Anders als in der Schweiz, wo die Kirche ihren Platz wieder finden muss. «Sie erleben in Polen erst jetzt den Kollaps. Die katholische Kirche ist in den letzten zehn Jahren von einer 2/3-Mehrheit auf eine 1/3-Minderheit gesunken. Und vorher war Polen fast ausschliesslich katholisch.»

«Wir haben vieles schon hinter uns»

Oliver Merz sprach über Selbstkritik und Chancen. «Wir haben vieles davon schon hinter uns. Die Fragen aus dem Publikum waren spannend. Jemand stand auf und fragte: ‘Wir haben viel Negatives gehört, wie baut man nun aber wieder neue Brücken?’ Sie sind an der Basis und suchen Lösungen.»

Oliver Merz erläuterte auch, dass die Kirche eine Mitverantwortung hat, nicht zuletzt bezüglich Missbrauch und Machtmissbrauch. «Es ist nicht nur die böse Welt, die nur nicht will. Man muss sich auch selbst auf verschiedenen Ebenen bewegen und überlegen, ob die Kirchen so noch zugänglich sind. Was es hingegen nicht heisst, ist das Religion und Spiritualität nicht wichtig wären. Ein grosser Teil der Menschen findet immer noch, dass sie religiös ist.»

Mensch sucht immer nach dem Transzendenten

Oliver Merz organisierte in Polen bereits eine europäische Konferenz mit, als er als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim FISG angestellt war. «Persönliche Spiritualität – die Suche nach Sinn, Verbundenheit und dergleichen – ist Teil des Menschseins. Die Geschichte zeigt uns, dass die allermeisten Menschen suchend nach dem Transzendenten und nach dem Sinn sind. Die Kirchen müssten den Mehrwert von christlicher Gemeinschaft zeigen, bei Einsamkeit, Isolation müssten sie dies sichtbar machen. Das ist meine Speerspitze, es gibt also auch Chancen. Es gilt aber, die eigenen Hausaufgaben zu machen.»

Es gehe darum, nicht nur zu heulen, sondern die Wunden zu lecken. Natürlich darf und muss man das vielleicht sogar eine gewisse Zeit lang. Auch solche Trauerprozesse sollten durchlaufen werden. «Es gilt aber, nach eingehender kritischer (Selbst)Reflexion wieder in neue Aktion überzugehen und die ist mehrschichtig. Die Aufklärung war beispielsweise auch und nicht zuletzt eine Reaktion auf religiöse Missstände beziehungsweise überfällige kirchliche Entwicklungsprozesse gewesen. Wir müssen ehrlich hinschauen wollen, warum etwas passiert, ein Verständnis dafür gewinnen und dann aktiv die Rolle finden und die Menschheit und deren Weiterentwicklung zum Besseren mittragen.»

«Aufarbeiten, nicht Zeit verlieren»

Wir sollten überlegen, was passiert (ist), wenn in traditionellen Kirchen beispielsweise die Gottesdienste aussterben; beobachtet Oliver Merz. «Nicht nur in Polen, sondern auch in der Schweiz ist man mancherorts erstaunt darüber und wird manchmal apathisch, fatalistisch. Ich versuch(t)e, Chancen zu suchen und zu verstehen, was wir verändern müssen. Und was die Möglichkeiten sind. Es ist an der Zeit, besser zu verstehen, was die Menschen brauchen. Anstallt sich untätig über die wachsende Säkularisierung aufzuregen, arbeitet man besser das Nötige auf und fragt, welche Art von Kirche und spiritueller Unterstützung die Menschen denn brauchen, sonst verliert man wertvolle Zeit.»

Radikalisierungen führten dazu, dass sich die Leute erst recht säkularisieren. «Plötzlich sind dann aber Palliative Care und Spiritual Care ‘in’, weil man merkt, dass man vielleicht zu viel rausgekippt hat. Die Forschung zeigt klar, dass Religion gesünder machen kann, aber mindestens bei der Bewältigung von schwierigen Lebensumständen hilft; sie kann aber auch Leid verursachen oder verschlimmern. Es gibt grundlegende Fragen, die auch ich nicht so gern höre, aber wir können auch nicht wegschauen. Wir müssen gut überlegen, welches Christentum wir in diese Welt transportieren. Viel Reflexion ist gefragt. Wir sind auch hier an kritischen Wenden. Nur zusammenführen, annähern, neu gründen oder fusionieren wird nicht automatisch mehr Glaubwürdigkeit schaffen. Wir müssen schauen, was verbindet und ob das stark genug ist, um eine Botschaft in die Gesellschaft zu bringen. Da sehe ich in Europa grosse Spannungen.»

Paulus versteckte sich nicht in Kirche

Oliver Merz erinnert an Paulus in der Apostelgeschichte. «Er versteckte sich nicht in der Kirche. Das Christentum hatte damals noch keine Geschichte, es war etwas unter vielen. Das Christentum als strukturierter Machtapparat, wie es im Moment ist, sehe ich nicht in der Bibel, ich sehe das Reich Gottes als Kontrastgemeinschaft. Gelebte Liebe zu Gott und einander war und ist das Erkennungszeichen der Jünger Jesu. Christen mussten damals am Rand sein. Erneuerung kommt vom oft von den scheinbaren Rändern der Kirche, weil man sich bewegen muss.»

«Bei meinen Freunden in interkulturellen sozialdiakonischen und missionarischen Diensten an anderen Ecken der Erde lernte ich dazu viel», erklärt Oliver Merz: «Sie bewegen sich anders in ihrem gesellschaftlichen Umfeld, als wir das in der Vergangenheit und zum Teil bis heute in unseren Breiten als Kirchen tun. Mit stark sozialdiakonischer Motivation ‘verschenken’ sie sich ihren Mitmenschen, als Automechaniker, beim Kaffeetrinken, im Fussball-Team… Sie kommen dabei nicht mit einem aggressiven Sendungsbewusstsein. Sie sind den Menschen ein echtes Gegenüber, ein vertrauensvoller Freund auf Augenhöhe. Sie instrumentalisieren andere nicht, teilen ihr Leben und überlassen Gott das, war daraus wird. Sie zeigen damit, dass der Glaube in Form von gelebter Nächstenliebe an sich eine Auswirkung hat, vielleicht sogar die entscheidende.»

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Datum: 15.12.2025
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet

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