Das Ohr für alle
«Nächster Halt: Emilienstrasse». Die U2 in Hamburg fährt in eine hellgrün geflieste U-Bahn-Station ein, die einen freundlichen Kontrast zum grauen Regenwetter in der Stadt bildet. Ein Kiosk, der kleine Glaskasten mitten auf dem Bahnsteig, fällt mir sofort ins Auge – etwas anderes gibt es in dieser Station nicht. Am offenen Schiebefenster wartet Katerina auf mich. Sie ist 35 Jahre alt und seit anderthalb Jahren im Team von «Das Ohr».
Damals hat Katerina angefangen, in Hamburg Psychologie zu studieren. «Ich bin hier öfter mal vorbeigelaufen und fand es super charmant. Ich mag Einrichtungen, die eine besondere Location haben. Und dann kam bei mir auch das Interesse dazu, rauszufinden, ob ich nur die wissenschaftliche Theorie spannend finde oder ob auch das Zuhören etwas für mich ist.»
Das funktioniert hier gut, denn genau darum geht es im «Ohr»: montags bis freitags ist der Zuhörkiosk von 12 bis 18 Uhr mit einem oder einer Ehrenamtlichen besetzt. Diese Person ist bereit, zuzuhören: Egal, ob es nur um eine kurze Wegbeschreibung geht, ein Gespräch entsteht oder die ganze Lebensgeschichte erzählt wird. Jeder ist willkommen, das Angebot ist anonym und kostenlos. Gleichzeitig darf auch jeder als «Ohr» – so nennen sich die Zuhörenden selbst – mitmachen. «Es ist ein niedrigschwelliges Angebot», erzählt Katerina, «deswegen habe ich es mir bewusst ausgesucht. Beim Sorgentelefon beispielsweise müsste ich erst noch eine Ausbildung machen.» Der Zuhörkiosk ist kein Ersatz für Therapie. «Ich sag direkt am Anfang: Ich höre zu. Ich kann gar keinen Rat geben. Ich bin aber beeindruckt, was es trotzdem für einen Einfluss auf Menschen haben kann. Dass Personen, die hier reinkommen, manchmal auch zwei oder drei Stunden mit einem sprechen und voll im Eimer sind, am Ende wieder mit Hoffnung rausgehen.» Gleichzeitig sammeln die Ehrenamtlichen Flyer von verschiedenen Beratungsangeboten in der Stadt, an die sich Gäste wenden können, die psychologischen Rat brauchen.
Das Ohr und die Ohren
Wie ein Gespräch genau aussieht, ist ganz unterschiedlich und hängt nicht nur von den Gästen, sondern auch vom jeweiligen «Ohr» ab. Manche sind extravertiert, gehen etwa auf dem Bahnsteig auf Menschen zu. Andere, zu ihnen zählt sich Katerina, warten eher am offenen Fenster des kleinen Kiosks darauf, dass die Menschen zu ihnen kommen. Wenn ein Gespräch über das schnelle Erfragen des Weges, des Fahrplanes oder der Uhrzeit hinausgeht, öffnen die «Ohren» gerne auch die Tür zu ihrem kleinen Reich. Im Inneren stehen zwei Stühle, ein kleiner Tisch und es gibt eine Kaffeemaschine. Es hängen schwarz-weiss Fotografien an jeder Stelle, die keine Glasscheibe ist, und in den Regalen sammelt sich Deko – von einem Kuscheltier-Elmo aus der Kinderserie Sesamstrasse bis hin zu russischen Matrjoschka-Puppen.
Die Deko ist, genau wie der Zuhörkiosk, über die letzten Jahre gewachsen. 2017 hat der Gründer Christoph Busch den Kiosk gemietet, als er gesehen hat, dass er leer steht. Er hat als Drehbuchautor gearbeitet und war auf der Suche nach neuen Geschichten. Schnell hat er gemerkt, dass er gar nicht zum Schreiben kommt. Und dass Menschen nicht nur spannende Geschichten haben, sondern oft auch niemanden, der ihnen zuhört. Über die Zeit kamen mehr Leute ins Team. Mittlerweile unterstützen den heute 79-Jährigen 20 Ehrenamtliche, die in festen Drei-Stunden-Schichten den Kiosk betreuen und weitere zehn bis 15, die bei Bedarf einspringen und eine Schicht übernehmen. Ausserdem sind fünf Personen im Hintergrund aktiv, die sich um die Organisation und die bürokratischen Herausforderungen kümmern, die ein Verein mit sich bringt. Dazu gehören auch die Spenden: «Das Ohr» bekommt ab und zu zweckgebundene Fördermittel für einen bestimmten Zeitraum, ist ansonsten aber komplett spendenfinanziert. Auch Christoph Busch ist mittlerweile einer, der dieses administrative Ehrenamt bekleidet und selbst nur noch als «Ohr» einspringt, wenn Bedarf ist.
Jede Schicht ist anders
Katerina erzählt, dass sie ungefähr alle zwei Wochen eine Schicht übernimmt. Mit wie vielen Personen sie in einer Schicht spricht, kann sie nicht sagen. «Es sind viele, die spontan hängen bleiben, einige, die sich vornehmen, wiederzukommen, und es gibt auch einen Teil, der sich bewusst einplant, herzukommen.» In manchen Schichten warten Gäste teilweise darauf, als nächstes ins Gespräch zu kommen, in anderen Schichten vertreibt Katerina sich die Zeit eher mit dem Lesen eines Buches. «Aber selbst, wenn gar nichts los ist, bleibt immer mindestens eine Person stehen, die sagt, dass sie den Kiosk total toll findet.»
Das erlebe ich auch heute. Eine Frau mittleren Alters kommt mit Einkäufen aus der Bahn und schnurstracks auf den Kiosk zu. Sie würde gerne eine «Das Ohr»-Kaffeetasse kaufen – das hätte sie auch schon auf dem Hinweg gemacht, die Tasse aber direkt verschenkt. Sie wohnt in der Emilienstrasse und hat die Entstehung und Entwicklung des Projekts von Anfang an mitbekommen. Sie findet es ganz toll und wichtig – auch wenn sie selbst das Angebot bisher nur einmal fast angenommen hätte. Trotzdem müsse es viel mehr solcher Angebote geben.
In Hamburg gibt es seit 2023 bereits einen zweiten Zuhörkiosk in einem Einkaufszentrum im Stadtteil Bramfeld. Gerade zu Beginn der Gründungsphasen entstehen oft Kontakte zu anderen Kiosken. «Das Ohr» hilft gerne mit Erfahrungsberichten und nach Absprache auch mit Material, solange die Intention eine ähnliche ist und die Kioske ebenfalls kostenlos, weltanschaulich und politisch neutral sind. Der Kiosk in Bramfeld nutzt beispielsweise das gleiche Logo.
Auch in anderen Städten ziehen Vereine wie «momo hört zu» in München oder «zuhören draussen» deutschlandweit nach und initiieren Zuhör-Termine. Ausserdem gibt es an einigen Orten Zuhör- oder Plauderbänke, die Menschen dazu ermutigen, miteinander ins Gespräch zu kommen.
High Fives und Süssigkeiten
Auf einmal steht ein etwa zehnjähriger Junge stumm vor dem geöffneten Fenster und lächelt uns an. Katerina weiss direkt, worum es geht und holt eine Schüssel mit Süssigkeiten hervor. «Na, wie geht’s euch?», fragt der Junge, während er sich eine Tüte Gummibärchen schnappt. Wir kommen in ein kurzes Gespräch. Er stellt sich als Milan vor und findet es total cool, dass ich einen Artikel über «Das Ohr» schreibe. Er gibt mir ein High Five und erzählt, dass er schon lange immer hier am Kiosk vorbeikommt. Er weiss, dass es hier «Naschis» gibt und alle immer nett sind. Mittlerweile kennt er auch fast jedes «Ohr». Kurz danach zieht er weiter, mit einem weiteren High Five zum Abschied.
Katerina erklärt: «Man erwartet, dass Leute den Kiosk für Probleme nutzen – und das tun sie auch, aber es kommen auch wirklich einige, die einfach gerade etwas erzählen möchten.» Oder wie in Milans Fall einfach mal wieder vorbeischauen möchten – «Das ist dann auch irgendwie total bereichernd.»
Schwierige Momente
Es gibt aber auch bedrückende Geschichten oder harte Momente. «Einmal hatte ich das Gefühl, ich hätte bei jemandem eine schwerwiegende, psychische Krankheit erkannt, aber es lag weder Eigen- noch Fremdgefährdung vor, deswegen konnte ich nichts machen. Das ist mir nachgegangen», erzählt Katerina. «Die Leute muss man gehen lassen, ich habe kein Recht, da einzugreifen. Ich kann nur versuchen, einfühlsam zu sein und zu verstehen zu geben, dass man der Person wünschen würde, dass sie sich an jemanden wendet. Das ist der Unterschied zur Therapeutin. Dort kommt eine Person schon mit einem Hilfsauftrag hin.»
In solchen Momenten ist Katerina dankbar für das Team, mit dem sie sich austauschen kann. Regelmässig werden auch Supervisionstreffen oder andere Termine organisiert, Katerina hat so zum Beispiel an einem Erste-Hilfe-Kurs zum Thema Mentale Gesundheit teilgenommen. Und auch der Ortswechsel hilft ihr, die Gespräche nicht zu sehr an sich ranzulassen.
Jedes «Ohr» hat seine Grenzen. Katerina hat für sich festgelegt, dass sie mit alkoholisierten Männern nur durch das Fenster spricht, sie nicht in den Kiosk einlädt. Die Ehrenamtlichen sollen sich wohl und sicher fühlen, dürfen Gespräche auch abbrechen. Trotzdem ist die Maxime im Zuhörkiosk klar: Jeder und jede verdient Gehör. «Generell ist «das Ohr» ein Ort, wo wir keine bestimmte Meinung vertreten, kein bestimmtes Weltbild», erzählt Katerina, «Mir als Person fällt es schon manchmal etwas schwer, wenn ich eine rechtsextreme Gesinnung, Rassismus oder Sexismus wahrnehme. Und gleichzeitig denke ich mir, dass das auch entsteht, weil halt keiner mehr zuhört. Und wenn ich die emotionalen Kapazitäten habe, dann blende ich meine Meinung aus und versuche, Meinungen, die ich politisch sehr schwierig finde, erstmal anzuhören.»
Eigene Motive
Immer wieder fahren Bahnen ein und aus. Alle zwei, drei Minuten verwandelt sich die Ruhe in lautes Stimmengewirr, das schnell wieder abzieht. Schnell gewöhne ich mich daran, fühle mich nach der ersten Stunde fast heimisch auf einem Bahnsteig, an dem man sonst nie länger als drei Minuten steht.
Das hängt auch mit dem heimeligen Kiosk, inklusive der vielen «Kinkerlitzchen», wie Katerina die Deko beschreibt, zusammen. Die «Ohren» können sich hier einbringen, wie sie sind. Für manche bedeutet das auch, den Kiosk mit Flohmarktfunden weiter zu dekorieren. Katerina schätzt die Ehrlichkeit, mit der hier alle dabei sind: «Christoph (Busch, Gründer von «Das Ohr», Anmerkung der Redaktion) hat mir mal gesagt, dass ihm ganz wichtig ist, dass der Kiosk nicht wie der totale Wohltätigkeitsverein rüberkommt, weil auch wir genauso was davon haben. Jede Person von uns bringt ein Motiv mit – das Zuhören zu lernen, sich selbst zu verbinden oder auch Geschichten zu erfahren wie Christoph damals als Drehbuchautor. Es ist nicht selbstlos, und das hat mich auch angesprochen. Ich finde, dass dies das realistische Bild ist. Und für mich hebt das die zuhörende Person und die Person, der zugehört wird, auf Augenhöhe.»
Offenbleiben
Und was hat Katerina in der Zeit im Kiosk jetzt ganz praktisch über das Zuhören gelernt? «Ich muss mich immer wieder daran erinnern, offenzubleiben. Ich habe das Gefühl, dass Menschen manchmal schnell aufhören, zuzuhören, weil sie denken, sie wissen, was das Gegenüber sagen will oder die Person direkt in eine Ecke stellen. Man muss versuchen, sich daran zu erinnern, lieber noch mal nachzufragen und noch mal besser zu verstehen. Ich denke, das könnten alle gut gebrauchen.»
Diese Offenheit erlebe ich hier: Die «Ohren», wie etwa Katerina, sind für Menschen da – unabhängig von Einstellung und sozialem Status. Das Gespräch, der Austausch und letztlich die Menschlichkeit sind der Mittelpunkt dieses besonderen Ortes. Mitten in Hamburg, mitten im Alltag, mitten in der Gesellschaft.
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Datum: 11.12.2025
Autor:
Nele Holtz
Quelle:
Magazin andersLeben 04/2025, SCM Bundes-Verlag