Der DDR entkommen, lädt er heute in die ganze Welt
Ost-Berlin, 28. Dezember 1974, kurz nach 18 Uhr. An dem grossen Kreisverkehr in der Karl-Marx-Allee stehen ein Mann und eine Frau. Sie wirken angespannt. Plötzlich hält eine schwarze Limousine mitten im Verkehr. Eine Dame mit dunkler Hautfarbe steigt aus, geht um den Wagen, öffnet den Kofferraum und heisst die beiden hineinklettern. Dann schliesst sie die Heckklappe, steigt wieder in den Wagen und fährt los.
Nach etwa 15 Minuten, die dem Ehepaar im Kofferraum wie eine Ewigkeit vorkommen, stoppt das Fahrzeug. «Ihren Ausweis bitte», hören sie eine Stimme. Den beiden schlägt das Herz bis zum Hals. Wenn jetzt etwas schiefgeht, werden sie für Jahre hinter Gittern verschwinden.
20‘000 DM pro Flüchtling
Sie sind am Checkpoint Charlie, dem Grenzübergang nach West-Berlin vor allem für alliierte Militär- und Botschaftsangehörige. Die beiden Kofferraum-Insassen halten die Luft an. Bloss keine Fahrzeugkontrolle! Doch schon nach wenigen Minuten setzt sich der Wagen wieder in Bewegung – dank des Diplomatenpasses der Fahrerin.
Gegen 19 Uhr erreicht die Limousine die Zieladresse in einer noblen Villengegend von West-Berlin. Dann geht alles ganz schnell: Die Fahrerin hilft den beiden aus dem Kofferraum. Aus dem herrschaftlichen Haus kommt ein Mann im dunklen Anzug mit zwei Koffern in der Hand heraus – in jedem befinden sich 20‘000 D-Mark. Die Dame zählt nach und verschwindet kurz darauf im Dunkel der Nacht. Drinnen im Haus wird angestossen – auf die geglückte Flucht aus der DDR.
Stasiüberwachung
Der Mann, der soeben mit seiner Ehefrau sein «altes Leben» unwiderruflich hinter sich gelassen hat, ist Günter Grünewald (69), Pfarrer der sächsischen Landeskirche. Eigentlich wollte er nie in den Westen; er war seinen Weg stets «gerade gegangen», wie der gebürtige Leipziger rückblickend sagt.
Während seines Vikariats engagierte sich Grünewald stark im Reisedienst der Evangelischen Schülerarbeit – dazu gehören auch Begegnungen mit Jugendlichen aus dem Westen.
Grünewald geriet ins Visier der Stasi und wird rund um die Uhr beschattet. Der Pfarrer konnte damit umgehen: «Die nötige Kraft habe ich immer aus meinem Glauben geschöpft.» Doch seine Frau Christine wollte dem ständigen Überwachungsdruck nicht mehr standhalten.
Sie begann, mit Hilfe ihres Vaters Fluchtpläne zu schmieden: Ein Kriegskamerad ihres Vaters lebte in West-Berlin und hatte dort – als Inhaber einer Finanzierungsgesellschaft für Klinikbauten – Millionen verdient. Immer wieder hatte er angeboten, seinem Freund aus Kriegszeiten bei der Flucht in die BRD zu helfen. Nun setzte sich der Vater mit dem Bauunternehmer heimlich in Verbindung und bat ihn, an seiner statt das Pfarrerehepaar in den Westen zu holen.
Günter Grünewald wollte das eigentlich nicht: «Ich hatte den Eindruck, dass mein Platz in der DDR war.» Doch um seiner Ehe willen willigte er ein. Zuvor informierte er allerdings noch seinen Bischof in Dresden – damals Johannes Hempel. Der gab seine Zustimmung und versicherte, dass Grünewald nach der zwischen den Kirchen in Ost und West vereinbarten Sperrfrist von zwei Jahren auch im Westen wieder als Pfarrer würde arbeiten können.
Afrikanische Staaten verdienten
Dass die Afrikanerin, die ihn und seine Frau im Kofferraum über die Grenze geschmuggelt hatte, dies nicht aus Nächstenliebe getan hatte, war Grünewald klar. Doch dass sich einige mit der DDR befreundete, kommunistisch regierte Staaten mit Republikflüchtlingen «goldene Nasen verdienten», war ihm neu.
Und das lief so: «Der Freund meines Schwiegervaters hatte in den 70er Jahren immer wieder DDR-Bürger nach West-Berlin geholt – Pfarrer, Künstler, Schauspieler», berichtet Grünewald. «Dafür arbeitete er mit Diplomaten afrikanischer Länder wie Äthiopien zusammen, die von der DDR als Freunde betrachtet und an den Grenzübergängen daher in der Regel nicht kontrolliert wurden.»
Sie sammelten die Bürger in Ost-Berlin ein und brachten sie – wie das Pfarrer-Ehepaar – mit ihrem Diplomatenstatus über die Grenze. «Der Freund meines Schwiegervaters zahlte dafür pro Person 20‘000 Mark aus der eigenen Tasche.» Und die geschäftstüchtigen Diplomaten sollen damals bis zu acht Flüchtlinge täglich über die Grenze gebracht haben.
«Der Reisepfarrer»
Nach einer Arbeitsstelle bei der Diakonie in Wuppertal erhielt er 1977 einen Brief aus dem sächsischen Landeskirchenamt mit der Nachricht, dass er ab sofort wieder als Pfarrer arbeiten könne.
Grünewald entschied sich für Wittmund in Ostfriesland. Bald kam ihm die Idee, Bürgern anhand von Reisen in biblische Länder – zunächst vor allem nach Israel und in die Türkei – die Inhalte der Bibel nahezubringen.
Ein riesiger Erfolg: «Viele, die diese Reisen mitmachten, kamen dann auch zu den Gottesdiensten und engagierten sich in der Gemeinde.» Schon bald hatte er den Spitznamen «der Reisepfarrer».
Nachdem er sich Ende der 1990er Jahre in den Vorruhestand versetzen liess, ging er zurück nach Leipzig und gründete die «Reise Mission», die Bildungsreisen in mehr als 50 Länder anbietet und 25 Mitarbeiter beschäftigt.
Webseite:
Reise Mission
Datum: 11.03.2012
Quelle: idea