Fussball-WM: Von der Kunst des Scheiterns

Von der Kunst des Scheiterns
Dirk Schümer

Fussball sei die "nüchterne Zustimmung zu einer Welt, in der das meiste nicht zusammenpasst", schreibt der deutsche Theologe, Sozialwissenschaftler und Fussballfan Matthias Sellmann. Fussball reflektieren das Leben, die menschliche Existenz.

Dass Fussball etwas mit Religion zu tun haben könnte, ist gerade vor der WM (…) unübersehbar: Ein nur flüchtiger Blick auf die anschwellende Vor-WM-Literatur belegt diese phänomenologische Allianz von Fussball und Religion.

Mit dem Glaubens an Gott vergleichbar

Allerdings ist auch unverkennbar, dass in diesem literarischen Boulevard ein ironisches Sprachspiel dominiert. So ganz ernst ist es nicht gemeint, wenn man Fussball zur (erhabenen) Höhe der Religion oder die Religion zur (banalen) Tiefe des Fussballs in Beziehung setzt. Dadurch werden zwei wichtige intellektuelle Akzente unterbelichtet: Zum einen bleibt unbestimmt, inwiefern Fussball im präzise Sinn eine moderne Pseudoreligion darstellt; zum anderen wird ironisch überdeckt, dass Fussball tatsächlich ein Gleichnis des Gottesglaubens sein kann.

Die Kunst des Scheiterns

Der Fussballphilosoph Dirk Schümer behauptet: Fussball ist die Kunst des Scheiterns. Im Fussball ist der Fehler die Regel, und ein Fussballspiel anzuschauen bedeutet, auf die paar Momente des Gelingens zu warten, in denen etwas Relevantes passiert.

Fussball ist das Staunen und der Trost darüber, dass sich aus sehr unzulänglichen Mittelkombinationen gelegentlich unerwartete, brillante Momente ergeben, in denen für kurze Zeit die Welt so aussieht, als sei sie voller Sinn, Zugehörigkeit, Botschaft und Rhythmus. Laut Martin Seel ist ein Sportler jemand, "der in aller Öffentlichkeit und auf virtuose Weise etwas zu tun versucht, was er nicht kann."

Im Fussball wird nun diese Einsicht auf die Spitze getrieben wie nirgendwo sonst. Fussballfans wissen, dass jedes Spiel total gelingen oder total in die Hose gehen kann, und dafür gibt es Gründe der das Fussballspiel von jedem anderen Spiel unterscheidet: Ein runder Ball soll mit dem Fuss und als Team kontrolliert werden.

Ist der Mensch für den Fussball gebaut?

Zunächst einmal sind da der Fuss und das Bein. Der Fuss ist sehr viel grobmotorischer als die feingliedrige Hand. Die anatomische Funktion des Fusses und des Beines ist vor allem die Ermöglichung des Standes und des Gehens, nicht der Ertastung und nicht der Ergreifung. Füsse und Beine sind vor allem für kräftige Abstossbewegungen gebaut; hierfür sind die Muskeln besonders ausgeprägt. Man könnte sagen: Füsse und Beine sorgen für den Standpunkt; für die Hand(!)-lung und deren Kontrolle sorgen die Hände.

Hätte man nur die Füsse, wäre der Mensch wohl kaum die "Krone der Schöpfung. (…) "Der Fussballsportler, Idol des technischen Zeitalters, ist wieder zurückgeworfen auf die vorzivilisatorischen Gaben der Körpermotorik. (...) Fussball ist ein Kokettieren mit der eigenen Schwäche, als würden sich Schnecken im Schnellauf messen oder die Elefanten im Hochsprung."

Diese an sich schon schwierige Ausgangslage wird nun noch zweifach gesteigert. Zum einen soll mit dem groben Fuss das feinste geometrische Instrument kontrolliert werden: die Kugel, die als Ball dann auch noch elastischer Körper in Reibungskontakten zum Boden steht.

Zum anderen soll die Beherrschung der Kugel mannschaftlich organisiert werden. Fussball ist ein Mannschaftssport, in dem die einen verhindern wollen, was den anderen selbst schon kaum gelingt: den Ball planmässig von einem zum anderen und dann ins Tor zu bringen. Es ist allein die Kommunikation untereinander, die Sprache der Schreie, der Körper und der Intuition, die das Spiel mit dem Ball zum Erfolg bringt. Und das seltene Glück im Fussball liegt darin, dass es die menschliche Kommunikation ist, die gelegentlich über die Physik triumphiert.

Grundeinsicht ins Leben

Fussball kann eigentlich gar nicht klappen. Der menschliche Fuss und die soziale Kommunikation sind eigentlich zu unfähig, die Vollkommenheit eines Balles so zu dirigieren, dass der Gegner nicht mit Leichtigkeit seinerseits in den Besitz des Balles gelangt. Die Spieler und die Beobachter bringen sich selbst in eine Situation, in der das Scheitern vorprogrammiert ist.

Man geht also am Phänomen vorbei, wenn man im Fussball zuerst das ästhetische Moment sucht, den Freizeitwert oder die Lust am Sport. Es ist diese "Differenz zwischen dem zu erwartenden Scheitern und dem unwahrscheinlichen Gelingen", die uns am Fussball fasziniert. Es ist diese Differenz, die uns an nasskalten Novembertagen auf die Tribüne treibt, um zu sehen, wie unsere Mannschaft nicht nur im Schlamm, sondern auch im Mittelmass versinkt.

Fussball ist die nüchterne Zustimmung zu einer Welt, in der das meiste nicht zusammenpasst, nicht gelingt und in seinen Möglichkeiten nicht realisiert wird. Und darum geht es im Fussball um dasselbe Thema und um dieselbe Erfahrung wie im Glauben. Fussball reflektiert dieselbe Grundeinsicht ins Leben: dass nämlich das Leben, die menschliche Existenz ein dauerndes Ringen ist, eine dauernde, äusserst unelegante Anstrengung um Sinnhaftigkeit, eine Normalerfahrung von Mittelmässigkeit, immer nur ein Fragment des Möglichen, eine sehr nüchterne Veranstaltung, in der nur gelegentlich das klappt, was wir uns ersehnen. Ich gehe soweit und sage: Fussball kann eine Form mystischer Lebensdeutung sein.

Fussballfans sensibel für Religiöses

Auch diese Optik mag befremden: Normalerweise stellen wir uns doch den Mystiker gerade als den vor, der erfüllt ist vom Göttlichen und von hierher Gelassenheit, Zentriertheit und Tatkraft bezieht. Doch dem ist nicht so, wie die Biografien und Texte dieser Mystiker offenbaren. Hier wird deutlich: Mystik ist ein ähnlich unmögliches Geschäft wie Fussball.

Gott stehen wir gegenüber: mit unserer Sehnsucht, vor allem aber mit unserer Müdigkeit, unserer Unlust, unserer Zerstreuung, unserem Kleinkram, unseren Rückenschmerzen, unserem Alltag. In der Normalität einer intensiven Gottesbeziehung besteht genau dieselbe Differenz wie beim Fussball: in der Differenz zwischen ihrem zu erwartenden Scheitern und ihrem unwahrscheinlichen, gelegentlichen Gelingen.

Vermutlich deshalb, wegen derselben Erfahrung, dass eine Differenz besteht, sind so viele Fussballfans so sensibel für Religiöses und sind so viele Mystiker Freunde des rollenden Balls (…)

Datum: 26.05.2006
Quelle: Kipa

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