Wann es ungesund wird

Kann man zu früh vergeben?

Manchmal fühlen wir uns gezwungen, zu vergeben (Symbolbild)
Vergebung ist ein Geschenk und bietet die Möglichkeit zur Heilung. Wenn damit jedoch Druck aufgebaut, Schuld heruntergespielt oder totgeschwiegen wird, wird es ungesund.

Vergebung ist ein Kernelement des Christentums. Unser Glaube dreht sich darum, dass Gott uns vergibt, wie genau er das möglich gemacht hat und wie auch wir versöhnt miteinander leben können. In einigen Bibelversen wird Gottes Vergebung direkt verknüpft damit, dass auch wir anderen vergeben. Ein prominentes Beispiel steht im Vaterunser: «Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.» (Matthäus Kapitel 6, Vers 12)

Vergebung aus Zwang?

Lange habe ich diese Verse so verstanden: «Wenn du möchtest, dass Gott dir vergibt, dann musst auch du bereit sein, anderen zu vergeben.» Nicht selten enthielt diese Aufforderung einen drohenden Unterton. Das ging so weit, dass das Problem plötzlich nicht mehr auf der Seite dessen lag, der etwas falsch gemacht hatte, sondern bei dem, der es nicht sofort vergab. Täter schienen sich sicher zu sein: Gott vergibt, wenn man ihn darum bittet – und dann ist wieder alles in Ordnung. Doch als Opfer konnte man sich nicht mehr sicher sein, ob in der Beziehung mit Gott alles in Ordnung war, wenn man sich aus irgendeinem Grund mit Vergebung schwertat. Die Stempel «unversöhnlich» oder «nachtragend» bekamen eine Schlagseite und gewannen eher eine Dimension von «nicht mehr beim Herrn» oder «aus der Gnade gefallen».

Im christlichen Umfeld meiner Kindheit habe ich ein solches Schema immer wieder erlebt. Also bemühte ich mich, möglichst postwendend alles und jedem zu vergeben – und bekam Probleme. Denn Vergebung bedeutete in meinem Umfeld, dass man das Geschehene nicht mehr ansprach und dass man sich so verhielt, als wäre es nie passiert. Eigentlich perfektionierte man sich in der Schauspielerei. Gesunde Regungen wie ein Für-sich-Einstehen oder Wehrhaftigkeit aus Selbstschutz mussten unterdrückt werden. Dinge aufzuarbeiten oder Konsequenzen zu ziehen, war unmöglich. Denn diejenigen, die etwas falsch gemacht hatten, mussten glaubwürdig darin bestätigt werden, dass man die Taten nie wieder ans Tageslicht holen würde. Ich habe sogar erlebt, dass mich Täter selbst mit scheinbarer Besorgtheit darauf aufmerksam machten, wie gefährlich es für meine Beziehung zu Gott sei, wenn ich nicht vergebungsbereit sei.

«Ich musste nachtragend sein»

Mein kindliches Gerechtigkeitsempfinden spürte zum Glück, dass hier etwas nicht stimmig war. Es konnte nicht richtig sein, dass plötzlich nur noch derjenige Probleme hatte, dem etwas angetan worden war, während der Täter jederzeit Vergebung in Anspruch nehmen konnte. Gerade wenn es sich nicht um eine Einzeltat handelte, sondern um wiederholtes Verhalten, um ein gleichbleibendes Muster, schien es mir falsch, den Mantel des Vergessens über alles zu breiten und praktisch kollektiv eine Lüge zu leben. Das Verhalten änderte sich nicht und blieb schlicht falsch und verletzend.

Ich spürte, dass ich für meine eigene Gesundheit auf eine gewisse Weise nachtragend sein musste. Ich musste mich selbst dessen vergewissern, dass mir gegenüber Unrecht geschehen und dass meine gefühlsmässige Reaktion darauf völlig in Ordnung und sogar wichtig war. Die Alternative wäre gewesen, mich selbst zu verbiegen, Verletzungen zu verdrängen – und sie im Unterbewusstsein ihr Unwesen treiben zu lassen. Denn Verletzungen lösen sich nicht einfach in Luft auf, nicht durch Zeit und auch nicht durch das Bemühen, sie zu vergessen. Verletzungen können nur heilen – und das auch nur in einem förderlichen Umfeld, gut gereinigt, behandelt und geschützt.

Einladung zur Heilung

Ich finde, Gott hat uns mit unseren körperlichen Wunden ein sehr hilfreiches Bild für seelische Wunden gegeben. Denn die Mechanismen für die Heilung funktionieren genauso. Es gibt sie in verschiedenen Schweregraden, die unterschiedliche Behandlung brauchen und auch mehr oder weniger Zeit benötigen, um wieder heil zu werden. Ich entscheide, wie ich mit meinen Verletzungen umgehe, ob ich mich damit an einen Arzt wende oder ob ich sie ignoriere und eine Entzündung riskiere.

Vergebung ist für mich wie die Reinigung einer Wunde. Sie bekommt dadurch die Chance zu heilen, wofür sie dann Zeit und Ruhe braucht. Aber sie ist dadurch nicht plötzlich auf wundersame Weise verschwunden. Sie muss beschützt werden, auch vor neuen Verletzungen. Wenn das möglich ist, wächst sie mit der Zeit zu – und irgendwann vergisst man sie vielleicht wirklich. Oder es bleibt eine Narbe, die an das Ereignis erinnert, aber nicht mehr schmerzt.

Eine Wunde zu reinigen, bedeutet für mich, dass die unausgesprochenen Botschaften, die mit der Verletzung einhergegangen sind, die mich sozusagen wie giftige Pfeile getroffen haben, aus mir wieder entfernt werden. Das können Sätze sein wie: «Das hast du verdient.» Oder: «Daran bist du selbst schuld.» Oder eben die Worte selbst, die für die Verletzung gesorgt haben. Wenn ich vergebe, trenne ich mich von diesen Botschaften, ich muss mich nicht mehr mit ihnen herumschlagen, sie verlieren ihre Bedeutung für mich. Deshalb ist die Aufforderung zur Vergebung in der Bibel mittlerweile keine Drohung mehr für mich, sondern eine Einladung zur Heilung.

Vertrauen wachsen lassen

Vergebung ist also immer eine gute Sache, weil sie die Voraussetzung für die Heilung der Wunde schafft. Aber ich darf Vergebung nicht missverstehen als ein Herunterspielen oder Verdrängen der Schuld des anderen. Ich darf sie nicht gleichsetzen mit dem Vergessen, das man sich sowieso nicht befehlen kann. Vergebung ist auch nicht dasselbe wie Versöhnung, für die es noch viel mehr Voraussetzungen braucht: Einsicht beim anderen, Reue, vielleicht Wiedergutmachung als Zeichen dafür, dass er es ernst meint, Erfahrungen, die wieder Vertrauen wachsen lassen.

Während für Vergebung egal ist, wie der Täter über sein Verhalten denkt und damit umgeht, hängt Versöhnung entscheidend davon ab. Wenn sie nicht möglich ist, bleibt nur eine gesunde Distanz. Denn Vergebung darf vom Täter nie dazu missbraucht werden, Nähe zu erzwingen und dadurch vielleicht sogar die Voraussetzungen für weitere Taten zu schaffen. Wer einem anderen etwas angetan hat, dem bleibt nur die demütige Annäherung und die gewaltfreie Anfrage, ob der andere erneut bereit ist, sich auf den Versuch einzulassen, dass schrittweise wieder Vertrauen wächst.

Chance auf Veränderung

Deshalb würde ich die Ausgangsfrage so beantworten: Vergeben kann man nie zu früh, weil richtig verstandene Vergebung für die Betroffenen nur Vorteile hat. Die Wunde wird gereinigt, herabsetzende Botschaften verlieren ihre Wirkung, die Voraussetzungen für Heilung sind geschaffen. Aber man kann Vergebung durchaus falsch verstehen und versuchen, den nötigen Prozess abzukürzen, indem man die Schuld nicht als solche stehen lässt und anerkennt. Das Benennen der Tat ist aber grundlegender Bestandteil des Aktes der Vergebung.

Auch kann man sich zu früh auf ein Stadium der Beziehung zum Täter einlassen, das eigentlich noch gar nicht dran und sogar gefährlich ist. Versöhnung funktioniert anders und wir sollten neu lernen, uns auf gesunde Weise aufeinander zuzubewegen. Das kann beinhalten, dass beide Betroffene Worte finden müssen für das, was passiert ist, dass also erst recht über die Sache gesprochen wird. Die Wahrheit muss ans Licht kommen, muss erkannt werden, um Veränderung möglich zu machen.

Nicht selten entsteht verletzendes Verhalten aus Mustern, die ihren Ursprung im früheren Leben haben und erst einmal verstanden werden müssen, bevor sie irgendwie angegangen werden können. Deshalb ist es wichtig, sich nicht mit scheinbaren Abkürzungen zufriedenzugeben, sondern der Sache auf den Grund zu gehen. Als Betroffener tut man dem Täter sogar einen Gefallen, wenn man darauf besteht, das Geschehene nicht vorschnell auf sich beruhen zu lassen. Indem man von ihm verlangt, sich tiefer mit seinem Verhalten auseinanderzusetzen, gibt man ihm die Chance auf echte Veränderung. Und genau die ist eigentlich das Ziel von Vergebung.

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Datum: 19.10.2025
Autor: Judith Böttcher
Quelle: Magazin Family 06/2025, SCM Bundes-Verlag

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