Gnade

Gnade ist das, was erfreut

Gnade heisst auf griechisch: cháris. Der Ausdruck ist eines Stammes mit chaírein - sich freuen - chará - Freude. Cháris bedeutet: etwas, was erfreut oder freudig überrascht. Oft wird damit gemeint: Anmut, Lieblichkeit. Dasselbe haben wir ja im Lateinischen: gratia, Grazie.

Häufig bedeutet Gnade die Haltung eines Menschen, die erfreut (überwältigt), Wohlwollen, Gunst (Luk. 2,52; Apg. 2,47), Geneigtheit, persönliche Teilnahme, Vergeben. Besonders bezieht sich das auf hochgestellte Personen, am meisten auf den König. Zu denken ist dabei an die unumschränkten Herrscher des Orients, an deren Gunst oder Ungunst das Schicksal der Menschen hing; die Gnade eines solchen Königs brachte Fülle, Glanz und Erhöhung mit sich.

Gnade ist ein unmittelbares Eingreifen Gottes

Dass ein König jemandem Gnade erwies, bedeutete immer, dass er ganz persönlich eingriff in sein Leben, ihm unmittelbar etwas schenkte oder ihm über alle bestehenden Behörden und Gesetze hinweg Schuld und Strafe erliess (der »Gnadenweg« in der Rechtsprechung).

Das Neue Testament versteht unter der Gnade Gottes immer sein unmittelbares Eingreifen, Helfen und Geben. In der Gnade stehen heisst: in unmittelbarer Beziehung zu Gott stehen. Johannes sagt: »Das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Christus geworden« (Joh. 1,17).

Durch das Gesetz hat der Mensch auch ein Verhältnis zu Gott, aber nur ein mittelbares. Was auf dem mittelbaren Wege (durch so viele Zwischenpersonen und Behörden) vom Kaiser an den Bürger kommt, ist in seiner Wirkung unendlich abgeschwächt und verdünnt im Vergleich zu dem, was vom Monarchen persönlich kommt. Unter dem Gesetz sickert es nur spärlich von oben nach unten, - aber wo Gnade ist, ist eine göttliche Fülle.

Gnade ist Fülle, sie beflügelt zu göttlichem Tun

Paulus spricht wiederholt von dem Reichtum, den die Gnade bringt (Eph. 1,7; 1. Tim. 1,14); wo Gnade ist, kann man also aus dem Vollen schöpfen. Ein anderes Mal spricht er vom Lichtglanz der Gnade (Eph. 1,6): Sie gibt dem Menschen etwas Strahlendes; sie beflügelt ihn, dass er mit göttlicher Leichtigkeit und unwiderstehlicher Siegesgewalt schwierige Aufgaben löst.

Das meinen wir doch auch, wenn wir von einem Künstler sagen: »Er ist gottbegnadet.« Das bedeutet: ihm ist ein göttlicher Überfluss gegeben; und das, was andere mit allen Kraftanstrengungen nicht bewältigen können, geht bei ihm zwanglos. Wem Gnade gegeben ist (unmittelbares Stehen vor Gott), der darf sich nicht mehr unters Gesetz stellen (in die ganz mittelbare Beziehung zu Gott); damit wäre die Fülle, die von oben kommt, verscherzt, und der Mensch wäre aus der Gemeinschaft Gottes gefallen (Gal. 2,21; 5,4).

Gnade ist Vergebung, aber auch ein Sichgeben Gottes

Oft hat Gnade auch die Bedeutung von Begnadigung, von Erlass der Schuld, Befreiung aus dem Kerker der Gottesferne. Gnade bedeutet aber niemals blosses Vergeben, sondern immer auch ein Sichgeben Gottes.

Bezeichnend ist auch, dass die Gaben des Geistes Gnadengaben (chárisma) heissen. Die Grundbedeutung des Wortes (»Gnade ist, was erfreut«) bleibt im Neuen Testament überall bestehen - auch in dem Sinn, dass ein Mensch, dem Gnade gegeben ist, erfreuend, ermutigend auf seine Mitmenschen wirkt.

Datum: 10.12.2009
Autor: Ralf Luther
Quelle: Neutestamentliches Wörterbuch

Werbung
Livenet Service
Werbung